„Der Reiz des Fastens liegt im Verzicht“
Sein Urgroßvater Otto Buchinger begründete eine Fastenmethode. Was als Nischendasein begann, liegt heute voll im Trend. Menschen zahlen mitunter viel Geld für wenig Kalorien. Über das Fasten, die Sehnsucht nach Einkehr und wie alles zusammenhängt.
Zwei Mal im Jahr taucht Leonard Wilhelmi ab. Zum Fasten in seiner Klinik in Überlingen oder in der Klinik seines Bruders Victor im spanischen Marbella. Bei Saft, Suppe und Tee nimmt er sich in diesen Wochen Zeit zum Nachdenken und Kräftesammeln. „Wenn ich dann zurückkomme, habe ich meist 100 Ideen.“Ums Fasten dreht sich sein berufliches Leben. Als Urenkel des Naturheilers Otto Buchinger fühlt er sich dessen Ideen verpflichtet. Wenn auch in neuem Gewand.
Herr Wilhelmi, viele Menschen beginnen am Aschermittwoch zu fasten, unabhängig davon, ob sie christlich geprägt sind oder nicht. Wie erklären Sie sich den Reiz des Fastens?
Fastenphasen gibt es in allen großen Weltreligionen als Vorbereitung auf etwas Besonderes. Heute steht jedoch nicht mehr primär das Religiöse im Vordergrund. In unserer Überflussgesellschaft geht es um den Reiz des Verzichts. Man will Verzicht üben: auf Alkohol, Zucker, digitale Medien … Dadurch erhoffen sich Menschen innere Zufriedenheit oder Erfüllung. Das ist auch für uns eine Zeit, in der besonders viele Patienten in die Klinik kommen. In diesen Wochen hat das eine Selbstverständlichkeit. Da muss sich keiner erklären.
Muss man Verzicht wirklich „üben“?
Verzicht wird von vielen falsch verstanden und mit Leiden oder Zwang assoziiert und ist deshalb für einige immer noch erklärungsbedürftig. Das erfahre ich auch als Klinikleiter. Doch viel verrückter als Fasten finde ich, dass Menschen glauben, drei bis fünf Mahlzeiten am Tag zu brauchen. Die ständige Verfügbarkeit von Nahrung ist in der Evolution der Menschheit einmalig. Der menschliche Organismus kann sich auf Einschränkung einstellen.
Steht beim Fasten der körperliche oder der seelische Aspekt im Mittelpunkt?
Beides. Es geht bei Buchinger Wilhelmi um das Zusammenspiel. Beim Fasten stellt sich der Stoffwechsel um. Das ist wie bei einem Hybridauto. Wir haben einen Körper mit zwei Motoren. Den einen aktivieren wir durch Ernährung. Entfällt diese, schaltet der Körper um auf einen anderen Motor: den der Fettverbrennung. Die körperlichen Prozesse beeinflussen die mentalen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Ketonkörper, die als eine Art Superbrennstoff wirken. Besonders das Beta-hydroxybutyrat hat positive Wirkung auf die kognitive Leistung und Stimmung. Wir sehen das bei unseren Gästen: Mit dem Fasten verändert sich ihre Wahrnehmung. Sie werden sensibler, ruhiger, durchlässiger für eine innere Bestandsaufnahme. Das erklärt auch, warum Fasten in den Weltreligionen eine so große Rolle spielt.
Fasten Sie auch?
Natürlich. Sonst wäre ich ja kein glaubwürdiger Vertreter unseres Hauses. Fasten hat in unserer Familie eine lange Tradition. Meine Eltern haben mich schon als Kind fasten lassen, vor allem bei leichteren Erkrankungen wie Erkältungen. Auch vor einer größeren Zahnoperationen habe ich als sechzehnjähriger Junge gefastet. Heute habe ich alle sechs Monate drei Wochen als Auszeit fest eingeplant. Diesen Rhythmus habe ich mir schon während meines Studiums angewöhnt. Ich fange immer am 2. Januar an und vor meinem Geburtstag im Sommer. Das erlebe ich als wohltuend. Und das gibt mir physisch und emotional Kraft.
Was fasziniert Sie am Fasten?
Mich fasziniert, dass ich beim Fasten immer wieder Neues erlebe. Mal bin ich wahnsinnig aktiv, mal schlafe ich extrem viel. Im Fasten spiegeln sich immer die zurückliegenden Monate. Natürlich freue ich mich auch, danach wieder viel Energie zu haben. Auch dass sich ein gutes Körpergefühl einstellt, ist toll.
Auf was zu verzichten, fällt Ihnen schwer?
Herausfordernd ist zum einen der Switch in den Fastenmodus. Das heißt, ich brauche immer ein, zwei Tage bis ich in die Fettverbrennung schalte. Und dann, dass ich während dieser Zeit natürlich nicht mit meiner Familie koche oder esse.
Ihr Urgroßvater Otto Buchinger war ein bekannter Naturheilkundler und Arzt. Wie hat sein Denken Ihre Familie geprägt?
Otto Buchinger war Marinearzt und litt an einer akuten Gelenkerkrankung. Nachdem die damalige Medizin ihn aufgegeben hatte, versuchte er es mit 19 Tagen
Fasten – und hatte Erfolg. Obwohl man damals noch wenig über die Wirkmechanismen des Fastens wusste, verschrieb er sich ganz dem Thema. Und eckte an. In Überlingen hat man im Zusammenhang mit der Klinik anfangs nur von der „Hungerburg auf dem Berg“gesprochen. Das konnte meinen Urgroßvater nicht bremsen. Er folgte seinem lateinischen Leitspruch „amplius“. Auf Deutsch: weiter. Diesem Motto sind auch wir in der vierten Generation verbunden. Heute belegen die wissenschaftlichen Publikationen unseres Institutes seine Thesen.
Gibt es in einer Familie, die sich so intensiv mit Thema Gesundheit befasst, auch einmal Currywurst mit Pommes?
Wir sind keine Kostverächter und keine Asketen. Bei uns zu Hause gibt es auch mal Deftiges. Doch wir achten auf Qualität. Auch unsere Klinik ist Demeter-zertifiziert. Allerdings versuche ich, wenn ich bei einem Fest oder im Urlaub über die Stränge geschlagen habe, das über ein kurzes Fasten wieder auszugleichen. Balance zu halten, ist mir wichtig. Das versuchen wir auch unseren Patienten beizubringen. Fasten muss man ins Leben integrieren. Ein einmaliges Fasten reicht da nicht aus. Das Wiederholen von Fastenzyklen trainiert den Stoffwechsel.
Die Klinik Buchinger-wilhelmi hat mit Philipp Troppenhagen einen renommierten Koch gewonnen. Braucht es das, wenn nur Saft und Suppe serviert wird?
(lacht) Wir schenken doch nicht nur Suppe und Saft aus. Bei uns beginnt das Fasten mit einem Entlastungstag, an dem es ein leichtes vegetarisches Gericht gibt. Auf sechs Fastentage folgen dann drei, vier Tage Aufbaukost. Das heißt, jeder, der zum Fasten kommt, isst auch drei, vier Tage im Restaurant unsere biologische Vollwert-cuisine. Dann gibt es bei uns auch Gäste, die nicht klassisch nach dem Buchinger Wilhelmi-programm fasten, sondern ein individuelles Ernährungsprogramm absolvieren mit einer deutlich verringerten Kalorienzufuhr. Das war für uns Grund, unsere Ernährungskompetenz mit Spitzengastronomie zu kombinieren.
Mit dem Fasten verbunden ist oft eine innere Einkehr. Geht das in einem Luxus-hotel?
In einem schönen Zimmer mit Blick auf den Bodensee kann man durchaus einen inneren Transformationsprozess durchmachen. Das Fasten und der veränderte Stoffwechsel leiten einen körperlichen Zustand ein, der innere Einkehr ermöglicht. Ich höre hier immer wieder von Patienten, dass sie nach einer Auszeit ihr Leben verändert haben. Wir bieten zwar Meditation, Yoga, Qigong, Pilates oder geführte Wanderungen in der Natur. Doch programmieren können wir solche Transformationsprozesse nicht. Die stellen sich einfach ein.
Ihr Urgroßvater hat die Buchinger Fastenmethode entwickelt. Was zeichnet sie aus?
Die Methode hat drei Dimensionen. Zur medizinisch-therapeutischen gehören die täglichen Wanderungen und das Fasten, aber auch Stimulationen in Form von Leberwickel, Darmhygiene sowie die Entlastungs- und Aufbautage. Unsere Patienten sollen sanft in das Fasten reinkommen und so auch wieder gut herausfinden. Daneben spielt die spirituelle Dimension eine Rolle. Mein Urgroßvater war ein religiöser Mensch. Er verband mit dem Fasten den Gedanken der Umkehr, der Rückkehr zum rechten Weg, wo ein Mensch seine Potenziale entfalten kann. Wir nennen das heute Inspirationsdimension. Die dritte Säule bezieht sich auf die Gemeinschaft. Hier fastet man in einer multikulturellen, internationalen Gemeinschaft. Das unterstützt.
Menschen, die zu ihnen kommen, bezahlen zwischen 3000 und 16 000 Euro pro Woche dafür, dass sie bewusst wenig Kalorien zu sich nehmen. Warum machen die das?
Wir sind ein Premiumanbieter mit 300 Mitarbeitern bei ungefähr 150 Gästen. Die intensive Betreuung des Einzelnen hat ihren Preis. Doch wenn Sie in einem sicheren Setting fasten und eine gute medizinisch-therapeutische Betreuung in einer sehr schönen Umgebung haben wollen, sind Sie bei uns richtig.
Welche Fehler können beim Fasten gemacht werden?
Der größte Fehler ist, dass man zu wenig auf die Zeit nach dem Fasten achtet. Beim Fasten lebt der Körper von den Fettdepots und recycelt das Eiweiß aus alten Zellstrukturen. Das Recyclingprogramm ist eine Art körpereigene Müllabfuhr, die durch Fasten aktiviert wird. Während des Fastens schrumpft nicht nur das Fettgewebe,
Das ist wie bei einem Hybridauto. Wir haben einen Körper mit zwei Motoren.
Anfangs sprachen die Überlinger nur von der Hungerburg auf dem Berg.
sondern alle Organe, besonders Leber und Darm. In der anschließenden Phase werden Zellen und Gewebe neu aufgebaut, und es kommt zu einer regelrechten Verjüngung. Daher sollte ein besonderer Wert auf eine gesunde Ernährung in dieser Phase gelegt werden.
Lange wurde Fasten in den Bereich der Esoterik geschoben. Ist das überwunden?
Ja. Heute lässt sich kaum mehr bestreiten, dass Fasten medizinisch-therapeutisch wirksam ist, zum Beispiel bei einer Fettleber oder bei Bluthochdruck. Das hat die universitäre Medizin noch nicht überall erreicht. Möglicherweise stehen dem wirtschaftliche Interessen entgegen.
Gerade geht die Pandemie zu Ende und damit die Zeit, in der wir uns alle einschränken mussten. Ist jetzt bereits wieder die Phase des freiwilligen Verzichts gekommen?
Die Pandemie hat uns tatsächlich stark eingeschränkt. Und 2022 wurde nach meinen Beobachtungen vieles nachgeholt. Jetzt ändert sich das. Bei unseren Patienten erlebe ich inzwischen eher eine Suche nach Sinnhaftigkeit. Da spielen Fragen eine Rolle wie: Was will ich dieses Jahr noch erreichen, wozu ist mein Körper noch im Stande?
Schlimme Nachrichten begleiten uns auch 2023. Bremst eine deprimierende Stimmung den Wunsch zu fasten?
Nein, im Gegenteil. Die meisten, die zu uns kommen, sehen ihren Aufenthalt eher als Anker. Sie blenden Krisen nicht aus, können sich bei uns aber sammeln und sie besser bestehen. Unsere Patienten stehen nach einer Kur mit mehr Energie im Leben als vorher. Ich könnte sogar sagen, je turbulenter die Welt da draußen, desto mehr brauchen wir Werkzeuge, um damit klarzukommen. Und Fasten ist defintiv eines davon.
Am Ende einer Fastenzeit freuen sich viele auf einen speziellen Geschmack, ein Gericht. Auf was freuen Sie sich?
Am meisten freue ich mich dann auf ein gemeinsames Abendessen mit meiner Frau und meiner Tochter. Das vermisse ich immer am meisten. Auch das gemeinsame Kochen geht mir ab. Ebenso mein Espresso am Morgen. Nach einem Fasten sind Geruchs- und Geschmacksinne regeneriert. Das Essen eines Apfels kann ein Feuerwerk für die Geschmacksknospen sein. Doch auch die Fastenzeit ist schön. Für mich hat der damit verbundene Rückzug einen großen Wert.