Unrecht mit langer Tradition
Bei der Entschädigung nach einer Gewalterfahrung wird in Deutschland seit langem mit zweierlei Maß gemessen. Traumatisierten Menschen schlägt oft Misstrauen entgegen. Damit muss Schluss sein.
Unter der Orgelempore des Ulmer Münsters beeindruckt eine riesige, acht Meter hohe, 1934 aufgestellte St. Michaels-figur mit erhobenem Schwert. Diese war als Denkmal für die 25 000 Gefallenen des Standorts Ulm im 1. Weltkrieg errichtet worden. Mehr als 80 Jahre später entbrannte ein Streit, der im Vorschlag mündete, diese Figur zu entfernen, um sich von der militaristischen deutschen Geschichte zu distanzieren.
Der Vorstoß entsprang der Scham und vielleicht auch dem Wunsch, das Unrecht ungeschehen zu machen. Der Philosoph Odo Marquard bezeichnete den Wunsch, solche Zeugnisse zu beseitigen als „Die Flucht aus dem Gewissen haben in das Gewissen sein“. Er schrieb 2020: „Der erfolgreichste Entlastungsmechanismus wurde dabei die Flucht in die Kritik, mit der Grundfigur entkommt man dem Tribunal, indem man es wird. Man floh aus dem Gewissen haben in das Gewissen sein. Das schlechte Gewissen, das man selber hatte, ersparte man sich oder linderte es, indem man das schlechte Gewissen für die anderen wurde.“Die Tribunalisierung, also die Distanzierung von Taten durch das Urteilen über sie, gibt es noch immer. Damit wird man verursachtem Unrecht aber nicht gerecht. Vertrauen lässt sich nur durch Verantwortungsübernahme, Anerkennung von Leid und Einsatz für Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit wiederherstellen.
Nach dem 1. Weltkrieg wurden sogenannte „Kriegszitterer“in Deutschland abgewertet und als „Schüttelneurotiker“stigmatisiert, während sie in Frankreich als „Invalides du Courage“– Invaliden der Tapferkeit – bezeichnet wurden. Während des Nationalsozialismus wurden seelisch Erkrankte grundsätzlich nicht für Folgen erlittener Kriegstraumata entschädigt. Nur körperlich Kriegsversehrte hatten ein Anrecht auf höhere Sozialleistungen. Diese Verletzten wurden zu Ehrenbürgern der Nation stilisiert, während rund 5000 psychisch beeinträchtigte Veteranen in den Tötungsanstalten umgebracht wurden.
Auch nach dem 2. Weltkrieg setzte sich die ablehnende Haltung gegenüber psychischen Traumafolgen fort, zum Beispiel in der psychiatrischen Begutachtung durch sogenannte „Vertrauensärzte“. Diese unterstellten Kz-überlebenden oft vorbestehende psychische Probleme und schlossen damit Entschädigungen zulasten der Bundesrepublik aus. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber den Zeugenaussagen der Betroffenen würde man heute als epistemische testimoniale Ungerechtigkeit bezeichnen.
Für die Betroffenen führte das zu einer gefühlten Rollenumkehr in den Entschädigungsverfahren. Der Nachfolgestaat der Täter schwang sich zum Richter darüber auf, ob Erstattungsansprüche angemessen sind. Die Betroffenen, die etwas fordern, wurden quasi zu Angeklagten. Diese Umkehr prägt den Umgang mit Opfern von Gewalt bis zum heutigen Tag.
Angesichts des 2024 in Kraft tretenden neuen sozialen Entschädigungsrechts kann man sich die Frage stellen, ob der Begriff „Entschädigung“nicht falsche Erwartungen weckt, weil man weder für den Verlust von Gliedmaßen noch für erlittene seelische Traumata Betroffene entschädigen kann. Man kann ihr Leid anerkennen und Anerkennungsleistungen vergeben. Und man kann ihre heutige Teilhabe am täglichen Leben unterstützen. Nach dem Motto: ein gutes Leben trotz traumatischer Belastungen.
Eine Frage der Haltung
Unerträglich lange Bearbeitungsfristen, ein persönlicher und schriftlicher Umgang, welcher aus Rechtsanspruchsträgern quasi Bittsteller macht, sind nicht allein durch gesetzliche Reformen zu verändern, sondern durch eine Veränderung der Haltung.
Im sozialen Entschädigungsrecht richten sich die Rechtsansprüche der Betroffenen gegen den Staat, der nicht in der Lage war, sie zu schützen. Anerkennungsleistungen, Entschädigungen, Hilfen zur Teilhabe sind keine Werke der Barmherzigkeit, sondern Ausdruck der Verantwortungsübernahme der mit den Tätern verwobenen und ihre Taten strukturell begünstigenden Institutionen. Wir müssen Betroffene wie Rechtsanspruchsträger behandeln und nicht wie potenzielle Leistungserschleicher. Dazu gehört auch Offenheit und Transparenz in Bezug auf das eigene Wissen über Tatabläufe und Tatkonstellationen.
Zu Beginn der Fastenzeit wird immer wieder ein schonender Umgang mit der Schöpfung thematisiert. Vielen ist jedoch nicht klar, dass zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen auch gerechtere Gesellschaften (Ziel 16) gehören und das Ziel, dass Kinder ohne Gewalterfahrungen aufwachsen können.
Im kirchlichen Kontext wird nicht selten vorschnell ein Bezug zwischen dem Leiden von Missbrauch betroffener Kinder und dem Leiden Jesu hergestellt und damit das Leiden der Kinder scheinbar heroisiert. Doch, darauf weist der Jesuitenpater Klaus Mertes hin: „Keines der Opfer sexualisierter Gewalt hat das Leiden frei gewählt, kein Opfer sexualisierter Gewalt trägt Schuld oder Mitschuld an den Taten.“
Die Kirche als Täter-organisation und als Vertuscherin im Missbrauchsskandal oder als Profiteurin der Repression von Heimkindern in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik kann deshalb nicht im Gewand des barmherzigen Samariters daherkommen und sich nicht als Richterin aufspielen. Anerkennungsleistungen sind deshalb keine Werke der Barmherzigkeit, sondern der Versuch, der eigenen Verantwortung gerecht zu werden.
Das führt in den Institutionen oft zu einer seltsamen Sprachlosigkeit – und zur Abwehr. So wurde auch von Seiten der württembergischen Landeskirche in einer Umfrage der damalige Unabhängige Beauftragte hinters Licht geführt, indem diesem von einem Aufarbeitungsprojekt berichtet wurde, über das noch gar kein Vertrag bestand. In Zweifel gezogen wurden auch unsere Zahlen aus einer Repräsentativbefragung zu sexuellem Missbrauch in Institutionen. Diese wollte man nur gelten lassen, sofern sie den Sport und die katholische Kirche betreffen, aber nicht in Bezug auf Einrichtungen der evangelischen Kirche, denn man habe ja keinen Zölibat. Das hat mich nicht nur geärgert, sondern auch Zweifel ausgelöst, ob es richtig ist, zu solchen angsttauben Ohren zu sprechen.
„Notlügen“wider besseres Wissen und Vernebelung werden in diesem Zusammenhang in Anlehnung an den Titel des Theaterstücks „Gas Light“von 1938 als „Gaslighting“bezeichnet. In dem Theaterstück geht es darum, dass ein Mann seine Frau in den Wahnsinn treibt, indem er behauptet, Dinge nicht zu sehen, die da sind. Er stellt also bewusst ihre Wahrnehmung infrage, unter anderem das Licht einer flackernden Gaslaterne, was den Begriff prägte.
Justiziare als schlechte Ratgeber
Die Strategie des „Gaslighting“ist eine manipulative Taktik, welche Opfer bewusst isoliert und in Bezug auf ihre Wahrnehmung verunsichert. „Gaslighting“erschüttert das Urvertrauen. Dieses Vertrauen in die Kirchen und ihre Repräsentanten wurde durch wiederholtes Abstreiten der Mitwisserschaft und der Personalführungsverantwortung nicht nur im Missbrauchskontext und im Umgang mit Betroffenen tief erschüttert.
Ich würde mich freuen, wenn es uns gelingen könnte, unseren Umgang mit Betroffenen im Alltag stärker zu reflektieren und durch einen Verzicht auf eine primär defensive formalrechtliche Abwehr von Anforderungen Betroffener zur eigenen Verantwortungsübernahme zu kommen. Die Rechtsabteilungen und Justiziariate der Institutionen sind in ihrem Versuch, die Institution zu schützen, oft schlechte Ratgeber. Sieht man die ungeheuren Summen, welche der Kölner Kardinal Woelki allein bis Ende 2021 für Rechts- und Kommunikationsberatung aufgewandt hat (2,8 Millionen Euro) und sieht man den Scherbenhaufen, der damit angerichtet wurde, so könnte die Fastenzeit in kirchlichen Institutionen ein geeigneter Moment sein, sich von diesen untauglichen Abwehrversuchen durch Verrechtlichung und von der gezielten Vernebelung zu verabschieden.
Epistemisches Vertrauen kann durch Wahrhaftigkeit und Rückbesinnung auf die eigentlichen Ziele von Institutionen wiederhergestellt werden. In diesem Sinne wünsche ich mir von Verantwortlichen in Institutionen ein „Beratungsfasten“und eine Investition der gesparten Mittel und Energien in die wirklichen Aufgaben und Herausforderungen.
Leistungen zur Anerkennung des Leids sind keine Werke der Barmherzigkeit.