Sehnsucht nach Tauwetter
Das Jahr 1963 beginnt mit Eisglätte und starkem Schneefall. Nicht nur die Temperaturen sind tief im Keller, sondern auch die Stimmung vieler Menschen. Was ihnen zu schaffen macht, zeigt ein Blick ins Archiv der HZ.
60Menschen kommen ums Leben, als am 1. Februar 1963 über Ankara ein Passagierflugzeug mit einer Transportmaschine des türkischen Militärs zusammenstößt. Im Stadtzentrum suchen Passanten Schutz vor Trümmerteilen, viele von ihnen vergeblich. Ähnlich schlimme Bilder erschüttern wenige Tage später die Us-amerikanische Zivilluftfahrt. Nahe Miami in Florida stürzt ein Düsenjet in ein Sumpfgebiet. Bilanz: 43 Tote.
Aus Furcht vor ähnlichen Unglücken, in erster Linie jedoch wegen der starken Lärmbelästigung durch Tiefflüge überm Kreisgebiet spricht unterdessen Heidenheims Landrat Dr. Albert Wild im baden-württembergischen Innenministerium vor. Er nimmt die Zusage mit, die landesweit dafür vorgesehenen Bereiche würden nach Begutachtung durch eine Expertenkommission neu eingeteilt.
Lärm durch Tiefflieger
Wild dringt darauf, sich im Zuge dessen auch ein Bild von der Situation in Heidenheim zu machen. Die Ostalb liegt zu diesem Zeitpunkt in einem von neun Tieffluggebieten Deutschlands. Montags bis freitags dürfen die Maschinen der Nato-streitkräfte dort zwischen Sonnenaufgang und 17 Uhr bis zu 75 Meter tief fliegen. Über bewohntem Gebiet gilt nach Aussage von Verteidigungsminister Franz-josef Strauß eine Mindesthöhe von 600 Metern.
Offen ist zunächst, wann wieder Ruhe am Himmel einkehrt. Ungewiss auch, wie es mit einem deutlich leiseren Fortbewegungsmittel weitergeht: Das Stuttgarter Staatsministerium bestätigt Verhandlungen über ein zweites Gleis für die Brenzbahn zwischen Aalen, Heidenheim und Giengen.
Allerdings mache die Deutsche Bahn ihre Mitarbeit davon abhängig, dass das Land die Kosten trage. Der weitsichtige Beobachter ahnt bereits, dass eine auch 60 Jahre später noch andauernde Hängepartie droht.
Also lieber das Auto nutzen? Wenn es doch so einfach wäre! Wer seine Ziele sicher und schnell mit dem Pkw zu erreichen gedenkt, hat die Rechnung nämlich ohne die Kräfte der Natur gemacht: Anfang 1963 steckt im
Winter noch drin, was auf dem Kalender draufsteht, und so lässt der Zustand vieler Straßen und Gehwege unschwer darauf schließen, woher der Begriff „Schwäbisch Sibirien“stammt.
Vorwürfe gegen die Verwaltung
Vorwürfe, die Stadt komme ihrer Räumpflicht nur ungenügend nach, kontern Beschäftigte des Tiefbauamts in einem Leserbrief. Sie geben zu bedenken: „Auch die Arbeiter der Stadt Heidenheim haben eine wöchentliche Arbeitszeit von 45 Stunden – Gott sei Dank!“
Diese Zahl sei während des ersten Schneefalls deutlich übertroffen worden, und „zu jeder Tagesund Nachtzeit standen wir in grimmiger Kälte im Arbeitseinsatz, wo andere in der warmen Stube Berichte an die Zeitungen schrieben oder in ihrem Bett lagen“.
Damit alsbald wieder ein uneingeschränktes Durchkommen
ist, rückt eine Kolonne zunächst an zentralen Stellen mit Pickel und Schaufel großflächigen Eisplatten zu Leibe. Eine wahre Sisyphusarbeit, wie der Berichterstatter der HZ anmerkt: „Bis die 30 Arbeiter das ganze Stadtgebiet durchkämmt haben, wird es wohl Frühjahr werden.“
Viele Arm- und Beinbrüche
Alle Hände voll zu tun hat auch die Belegschaft des Kreiskrankenhauses: In der Chirurgie müssen zahlreiche Arm- und Beinbrüche versorgt werden. Nach und nach frieren weite Teile des öffentlichen Lebens – wie auch fast der gesamte Bodensee – buchstäblich ein.
Holzfäller müssen stempeln gehen, weil aufgrund anhaltenden Frosts und starken Schneefalls die laufenden Durchforstungsarbeiten zum Erliegen kommen. Das bekommen wiederum die Sägewerke zu spüren. Mehrere von ihnen
stellen den Betrieb ein, da ihre Vorräte zur Neige gehen und kein neues Rundholz angeliefert wird.
Selbst hartgesottene Fußballer gehen vor den Wetterkapriolen in die Knie. So kann sich die Herrenmannschaft der TSG Giengen die Fahrt nach Herbrechtingen sparen, die Partie zwischen dem VFB Bächingen und dem SC Hermaringen fällt ebenso aus.
Halber Meter Schnee
Dient das Wetter üblicherweise als dankbarer Gesprächsgegenstand, falls es an anderen Themen mangelt, dominiert es aufgrund der blanken Zahlen nun zwangsläufig wochenlang den Alltag. In Heidenheim liegt Mitte Januar immerhin mehr als ein halber Meter Schnee, und im gesamten ersten Monat des Jahres steigt die Temperatur an 27 Tagen nicht über die Null-grad-marke.
An sechs dieser sogenannten Eistage werden teilweise weniger
als minus 20 Grad Celsius gemessen. Rekordverdächtig ist auch der Mittelwert von minus acht Grad für den kompletten Januar. Zum Vergleich: Der langjährige Durchschnitt liegt bei lediglich minus 2,2 Grad.
Suche nach Gasleck
Dummerweise muss ausgerechnet unter diesen Bedingungen ein Bautrupp der Heidenheimer Stadtwerke im Kreuzungsbereich zwischen Christian- und Friedrichstraße den Boden aufstemmen. Nachdem mehrere Personen über Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt haben, suchen die Männer dort nach einem Leck in den Versorgungsleitungen.
Eile ist geboten, denn weil das ausströmende Gas aufgrund des gefrorenen Bodens nicht auf direktem Weg entweichen kann, gelangt es über Abwasser- und Telefonkanäle an die Oberfläche. Es herrscht Explosionsgefahr.
Zwei Rohrbrüche treten schließlich zutage. Als Hauptursache benennen die Fachleute Spannungen im Untergrund infolge der Minustemperaturen.
Wo soll das Gefängnis hin?
Eine Beruhigung der Lage bringt erst das einsetzende Tauwetter mit sich. Nun gilt das Augenmerk wieder anderen Dingen. Dem Winterschlussverkauf zum Beispiel, bei dem vor allem warme Kleidung gefragt ist. Auch der geplante Gefängnisneubau taugt zum Aufreger. Dafür als Standort das Heidenheimer Stadtzentrum auszuwählen „wäre ein Schwabenstreich erster Klasse“, poltert Stadtrat Bruno Brucklacher.
Ganz ohne Getöse geht derweil in Berlin die Wahl zum Abgeordnetenhaus vonstatten. Bis zur Schließung der Lokale kann ausnahmslos jeder und jede der Bürgerpflicht nachkommen, und es tauchen Tage später auch keine unerklärlicherweise irgendwo liegengebliebenen Stimmzettel auf. Sechs Jahrzehnte später soll das ganz anders aussehen . . .
Fasching ohne Hintergedanken
Der Winter deutet sacht seinen nahenden Abschied an, da stürzen sich die Heidenheimer auch schon mit Anlauf in die „fünfte Jahreszeit“: Im Konzerthaus werden beim Faschingsball der Marinekameradschaft Kostüme prämiiert und Schinken geschätzt. Und zu den Klängen der „Reeperbahn-bobbys“schwingen Cowboys und Indianer gemeinsam das Tanzbein. Vom Vorwurf der kulturellen Aneignung ist da noch nicht die Rede.