Wandern in der eigenen Vergangenheit
Der Zanger Hans-dieter Bieniek ist ehemaliger Ddr-grenzsoldat und hat mit seiner Partnerin Karin Kampf einen Wanderführer über das einstige Grenzgebiet in der Rhön geschrieben.
Wanderführer gibt es wie Sand am Meer. Einen wie den aus der Feder der beiden Zanger Hans-dieter Bieniek und Karin Kampf allerdings gibt es deutlich seltener: „Grenzland Rhön“heißt er und enthält nicht nur elf Wanderrouten unterschiedlicher Länge, sondern auch jede Menge deutsche Geschichte. Die Touren verlaufen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen, Bayern und Hessen, und zu jeder von ihnen gibt es eine ganz persönliche Fluchtgeschichte, die Bieniek in monatelanger Arbeit recherchiert und dafür mit den jeweiligen Flüchtlingen von damals gesprochen hat.
Bieniek aber erzählt nicht nur die Geschichte anderer, sondern vor allem auch seine eigene: Er selbst hat 1976 und 1977 ein Jahr lang als Ddr-grenzsoldat bei Frankenheim seinen Grundwehrdienst geleistet. Gewollt hatte er das freilich nicht und eigentlich, so erzählt der 66-Jährige heute, hätte er ohnehin durch das Auswahlraster des Ministeriums für Staatssicherheit fallen müssen: Sein Vater war 1952 wegen parteifeindlichen Verhaltens aus der SED ausgestoßen worden. „Er hatte in einer öffentlichen Parteiversammlung in meinem Heimatort die Zwangsaussiedlung von Bewohnern des Grenzgebiets im Rahmen der Sed-aktion ,Ungeziefer‘ scharf kritisiert“, erzählt Bieniek. Danach sei er laut einer Stasi-akte als „Staatsfeind der DDR“identifiziert worden.
Schießen ja – aber auch treffen?
Dennoch: Der damals gerade einmal 19 Jahre alte Bieniek fand sich im April 1976 an der innerdeutschen Grenze wieder. Und natürlich lautete der Befehl, die Grenze zu schützen, Ddr-bürger an der Flucht zu hindern – und zwar mit allen Mitteln: „Wir hatten den Befehl zu schießen“, erzählt Bieniek. „Ob man aber treffen wollte, diese Entscheidung traf jeder Soldat für sich selbst.“Über diese Entscheidung mit den Kameraden an der Grenze zu sprechen, kam allerdings nicht in Frage: „Richtige Vertrauensverhältnisse gab es nicht. Es waren zu jeder Zeit sicherlich circa sechs Informelle Mitarbeiter der Stasi unter den Soldaten.“Ihr Aufgabe: Fahnenflucht verhindern.
Für seine Recherchen hatten Bieniek und Karin Kampf Zugang zu Unterlagen des Stasi-unterlagen-archivs, der sogenannten „Gauck-behörde“sowie zu den Tagesmeldungen der Grenztruppen. Über diese Recherchen und über den ein oder anderen Telefonanruf bei Verwandten gelang es Bieniek, persönlichen Kontakt zu damaligen Flüchtlingen und Fahnenflüchtigen herzustellen und mit ihnen über ihre Erlebnisse und Beweggründe zu sprechen.
Ein emotionales Wiedersehen
Und nicht nur das: Durch seine Recherchen haben sich drei Männer wiedergefunden, deren Geschichte zu den bewegendsten Fluchterlebnissen im Buch gehört: Mit gerade einmal 16 Jahren hatten die Jungs 1965 die Flucht durch ein Minenfeld bei Henneberg gewagt und sich dafür eigens ein Minensuchgerät gebaut. Sie waren tatsächlich erfolgreich und sprachen nun, fast 60 Jahre später, bei der Buchpräsentation über ihre Erlebnisse.
Obwohl die Flüchtlinge von damals und Hans-dieter Bieniek in den 1970er-jahren ja eigentlich auf zwei unterschiedlichen Seiten gestanden hatten, hat der Zanger bei den Gesprächen keine Ressentiments gespürt: „Sie wissen alle, dass die meisten von uns nicht freiwillig an der Grenze standen und dass wir genauso wenig wegkonnten.“
Wanderrouten mehrfach erprobt
Karin Kampf kommt ursprünglich aus dem Rheinland und hatte, bis sie Bieniek kennenlernte, wenig Bezug zur ehemaligen DDR. „Ich bin ein Wessi-kind“, sagt die 57-Jährige. Doch bei Wanderungen durch die Rhön 2018 und 2019 erzählte ihr Bieniek eben genau die Geschichten, die jetzt teilweise ihren Weg ins Buch gefunden haben. So entstand die Idee für den Wanderführer, zumal die Gegend dort touristisch nur wenig erschlossen sei. Auch von der Geschichte des Grenzgebiets sei bislang kaum etwas zu sehen. „Aber es ist eine geschichtsträchtige Gegend“, sagt Kampf. „Und ein Naturparadies“, ergänzt Bieniek. Die elf Wanderrouten durch dieses geschichtsträchtige Naturparadies hat größtenteils Kampf zusammengestellt. Bieniek hat alle elf erwandert, teilweise mehrfach.