Das reine Grauen
Eins zu fünf. Oder doch nur eins zu drei? Das sind Zahlen, die Fachleute nennen, wenn sie die „Schlacht um Bachmut“analysieren. Demnach sterben in der apokalyptisch zerbombten Frontstadt mindestens dreimal mehr russische Soldaten als ukrainische. Das ist so, weil eine angreifende Armee in einem Häuserkampf meist größere Verluste hat. Vor allem aber, weil Menschenleben für Wladimir Putin von nachrangiger Bedeutung sind. Der Kremlchef will siegen – koste es, was es wolle.
Aber wie steht es um Wolodymyr Selenskyj: Darf der ukrainische Präsident, der für Freiheit und Menschenrechte ficht, ähnlich zynisch rechnen? Denn genau das tut er. Selenskyj hat entschieden, den Kampf in Bachmut aus strategischen Gründen fortzusetzen. Klarer formuliert: Weil dort mehr russische als ukrainische Soldaten sterben. Die Armee des Aggressors soll sich aufreiben. Das wiederum soll die eigene Gegenoffensive erleichtern. Und dazu hätten dann auch jene Soldaten beigetragen, die gerade in Bachmut getötet werden oder verstümmelt. Es sind menschenverachtende Rechnungen.
Unstrittig sollte dabei aber sein, dass die Verantwortung für das Gemetzel allein bei Putin liegt. Und es ist auch bekannt, mit welchem Vernichtungswillen die Besatzer in eroberten Gebieten wüten.
Was also tun? Sofort verhandeln, sagen die einen. Endlich die richtigen Waffen liefern, sagen die anderen.
Wer die Argumente ohne Zorn und Eifer würdigt, wird beiden Seiten den Willen zum Guten nicht absprechen können. Richtig ist aber auch: Wer nach einem Jahr des Krieges so tut, als gäbe es einfache Antworten, wird dem reinen menschlichen Grauen nicht gerecht.