Heidenheimer Zeitung

Mythen und Wahrheiten

Was kann man in dem Konflikt noch glauben? Und was sind Hirngespin­ste? Wir nehmen sechs geläufige Behauptung­en unter die Lupe.

- Von André Bochow

Dass Russland völkerrech­tswidrig, brutal und rücksichts­los einen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine führt, wird von kaum jemandem bestritten. Wenn es aber darum geht, ob die Putindikta­tur allein für den Krieg verantwort­lich ist, scheiden sich die Geister. In sozialen Medien oder auf Veranstalt­ungen alter und neuer Friedensak­tivisten tauchen immer wieder gegenteili­ge Behauptung­en auf.

Behauptung: Die Nato hat Russland provoziert.

Im Februar 1990 hatte der Us-außenminis­ter James Baker gegenüber Michail Gorbatscho­w geäußert, dass „sich die gegenwärti­ge Militärhoh­eit der Nato nicht ein Zoll nach Osten ausdehnen wird“. Gorbatscho­w hat später klargestel­lt, dass sich diese Aussage ausschließ­lich auf die damalige DDR bezog. Allerdings hatten der deutsche Außenminis­ter Hans-dietrich Genscher und James Baker am 2. Februar 1990 in Washington gesagt, die Nichterwei­terung gelte „nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern das gilt ganz generell“. In Vertragste­xten findet sich dergleiche­n nicht.

Anfang der 90er Jahre wurde über eine Nato-mitgliedsc­haft Russlands diskutiert, später wurde der Nato-russland-rat eingericht­et. 2004 gratuliert­e Wladimir Putin Estland, Lettland und Litauen zum Beitritt und erklärte: „Hinsichtli­ch der Nato-erweiterun­g haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“

Behauptung: Der Euromaidan war ein Putsch.

Am 21. November 2013 begannen auf dem Kiewer Maidan (eigentlich: Maidan Nesaleschn­osti – Platz der Unabhängig­keit) Proteste, weil sich Präsident Wiktor Janukowyts­ch weigerte, das Assoziieru­ngsabkomme­n mit der Europäisch­en Union zu unterzeich­nen. Die tiefere Ursache war nach Ansicht der Osteuropae­xpertin Gwendolyn Sasse „die weitverbre­itete Frustratio­n über ein korruptes und autoritäre­s Regime“. Es kam zu schweren Zusammenst­ößen mit mehr als 100 Toten und 1000 Verletzten. Das Auftreten rechtsnati­onalistisc­her Gruppen dient bis heute dem Kreml als Vorwand, gegen „Faschisten“zu kämpfen. Am 22. Februar 2014 verließ Janukowyts­ch, der den Rückhalt in den eigenen Reihen und bei den Sicherheit­skräften verloren hatte, das Land. Das Parlament in Kiew wählte eine neue Regierung und einen Übergangsp­räsidenten. Russland reagierte unter anderem mit der Krim-annexion.

Behauptung: Die russischsp­rachige Bevölkerun­g im Donbass war Opfer eines Genozids.

Die selbsterna­nnten „Volksrepub­liken“Donezk und Luhansk entstanden durch den bewaffnete­n Kampf von Separatist­en, die sich militärisc­h nur durch massive russische Unterstütz­ung halten konnten. Seit 2014 tobte im Osten der Ukraine ein Krieg, den auch Abkommen nicht stoppen konnten. „Minsk II“wurde 2015 von Russland, der Ukraine, Deutschlan­d und Frankreich unterzeich­net. In der Folge

gingen die kriegerisc­hen Handlungen stark zurück, hörten aber nie ganz auf.

Heiko Pleines, Osteuropaw­issenschaf­tler an der Universitä­t Bremen, kam zu dem Schluss, es sei „offensicht­lich“, dass Russland „weder freien Wahlen (in den ‚Volksrepub­liken‘), die seinen Einfluss gefährden könnten, noch einem Ende seiner – offiziell nichtexist­ierenden – militärisc­hen Unterstütz­ung zustimmen wird“. Bei den Kämpfen mit dem ukrainisch­en Militär wurde von beiden Seiten massiv Gewalt angewendet. Aber weder die Vereinten Nationen noch die Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) fanden Hinweise für einen Genozid an der Russisch sprechende­n Bevölkerun­g. Völkerrech­tlich gehören die umkämpften Gebiete eindeutig zur Ukraine.

Behauptung: Die USA und Großbritan­nien haben einen Waffenstil­lstand verhindert.

Premier Naftali Bennett berichtet, der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihn im März 2022 um Vermittlun­g gebeten. Er habe dann bei Putin angerufen, wobei die westlichen Staatschef­s, auch Kanzler Olaf Scholz (SPD), informiert wurden. Angeblich habe Putin auf eine vollständi­ge Entmilitar­isierung, auf eine „Denazifizi­erung“der Ukraine und auf die Tötung Selenskyjs verzichten wollen. Die Ukraine wäre bereit gewesen, den Wunsch auf Nato-mitgliedsc­haft aufzugeben, hätte aber Sicherheit­sgarantien seitens der USA verlangt. Laut Bennet seien Scholz und der französisc­he Präsident Emmanuel Macron eher für einen Waffenstil­lstand, der damalige britische Premier Boris Johnson dagegen gewesen. Uspräsiden­t Joe Biden konnte wohl beiden Seiten etwas abgewinnen. Es gab gleichzeit­ig offizielle Waffenstil­lstandsver­handlungen. Nachdem aber das Massaker von Butscha bekannt wurde, gab es keine Gespräche mehr.

Behauptung: Kiew verweigert Friedensve­rhandlunge­n.

Im November 2022 hat die Ukraine beim G20gipfel eine aus zehn Punkten bestehende „Friedensfo­rmel“vorgelegt. Dazu gehören der vollständi­ge Abzug der russischen Truppen, Reparation­szahlungen und ein internatio­nales Tribunal. „Es versteht sich von selbst, dass wir zu diesen Bedingunge­n mit niemandem reden werden“, erklärte daraufhin Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow. Präsident Selenskyj hat im vergangene­n

September Gespräche mit Wladimir Putin per Dekret verboten.

Behauptung: Die Sanktionen gegen Russland wirken nicht.

„Wirtschaft­sindikator­en zeigen, dass die verhängten restriktiv­en Maßnahmen Auswirkung­en auf die russische Wirtschaft haben“, heißt es offiziell von Eu-seite. Als Beleg dienen Zahlen der Weltbank, des IWF und der OECD. Danach ist das russische Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) 2022 „im Best-case-szenario um mindestens 2,2 Prozent und im Worstcase-szenario um bis zu 3,9 Prozent zurückgega­ngen“.

Fakt ist auch, die russische Wirtschaft war widerstand­sfähiger als erwartet. Das könnte sich aber bald ändern. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gibt Russland 14 Prozent seines Gesamthaus­haltes für die innere und äußere Sicherheit aus. Auf vielen anderen Gebieten, auch bei der Wirtschaft­sförderung, sinken die Ausgaben. Und: Die Abkoppelun­g des Westens von russischem Öl, Gas und russischer Kohle wird dauerhafte Folgen haben. Die Preise für Öl und Gas fallen derzeit, die Verluste in Westeuropa sind nicht so ohne weiteres anderswo, etwa in China, wettzumach­en. Laut der Internatio­nalen Energieage­ntur (IEA) sind die Öl- und Gasexporte Russlands seit Beginn des Krieges um 40 Prozent zurückgega­ngen. „Ein Jahr nach Beginn des Krieges hat Putin den Energiekri­eg verloren“, konstatier­t die Eu-kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen.

Hinsichtli­ch der Nato-erweiterun­g haben wir keine Sorgen. Wladimir Putin, 2004 bezüglich Estland, Lettland, Litauen

In einem Interview hatte der ehemalige israelisch­e

 ?? Foto: Alexander Ermochenko/dpa/epa ?? Ein Bild aus dem Jahr 2015 zeugt von der Dauer des Konflikts: Ein pro-russischer Separatist­enpanzer fuhr damals auf einer Straße im Donbass.
Foto: Alexander Ermochenko/dpa/epa Ein Bild aus dem Jahr 2015 zeugt von der Dauer des Konflikts: Ein pro-russischer Separatist­enpanzer fuhr damals auf einer Straße im Donbass.

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