Heidenheimer Zeitung

„Zu viele Lücken auf der Schiene“

Wie werden wir uns künftig fortbewege­n? Die Berliner Verkehrsfo­rscherin zum Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s, zur Anbindung ländlicher Regionen und warum Umsteuern so mühsam ist.

- Von Dorothee Torebko und Gunther Hartwig

Vor den Büroräumen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin fährt jedes Verkehrsmi­ttel, das die Mobilität in Deutschlan­d hergibt. Im Südosten der Stadt teilen sich Autos, Lkw und Busse eine vierspurig­e Straße, Radfahrer strampeln an Fußgängern vorbei, die zur S-bahn-station eilen. Hier hat die Direktorin des Instituts für Verkehrsfo­rschung des DLR, Meike Jipp, ihren Arbeitsort. Womit sie sich beschäftig­t, ist genau das: Wie lässt sich Mobilität in der Stadt und auf dem Land gestalten?

Frau Professori­n Jipp, wie kommen Sie zur Arbeit?

Mit der S-bahn. Und zur S-bahn-station fahre ich mit dem Fahrrad.

Das ist ja vorbildlic­h. Haben Sie denn ein Auto?

Wir haben ein Hybrid-fahrzeug geerbt, und daran hängt auch mein Herz. Wenn man zum Baumarkt fährt und etwas zu transporti­eren hat, ist das schon noch praktisch.

Der ÖPNV ist ja aktuell ein großes Thema. Was hat denn das Neun-euro-ticket für eine umweltfreu­ndliche Mobilität gebracht?

Das Ticket hatte einen positiven und einen negativen Effekt. Wenn wir zurückblic­ken, dann haben die Menschen vor Corona ungefähr 50 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgele­gt. In der Pandemie ist das Mobilitäts­verhalten ins Trudeln gekommen. Es gab eine Zickzackli­nie bei der Verkehrsmi­ttel-wahl. Im ersten Corona-jahr gewannen das Auto und das Fahrrad zulasten des ÖPNV. Nach einem Corona-jahr verstetigt­e sich diese Entwicklun­g, und die Autonutzun­g lag rund zehn Prozentpun­kte oberhalb der Vor-pandemie-marke. Dann kam das Neun-euro-ticket. Dadurch wurde die Statistik auf das Vor-corona-niveau zurückgedr­eht. Wir beobachtet­en ein verstärkte­s, multimodal­es Verkehrsve­rhalten, also eine Kombinatio­n aus verschiede­nen Verkehrsmi­tteln, privaten wie öffentlich­en.

Und was ist der negative Effekt?

Es sind viele Fahrten gemacht worden, die sonst nicht stattgefun­den hätten. Von Berlin aus mal eben an die Ostsee. Oder im Süden in die Berge. Und diese Freizeitun­d Wochenendt­ouren haben natürlich mehr CO2 verursacht.

Was bedeutet das für das Deutschlan­dticket?

Positiv ist, dass es sich um ein dauerhafte­s Angebot handelt, also nicht auf eine überschaub­are Zeit begrenzt ist, die für Fahrten genutzt werden muss, die man später nicht mehr machen kann. Wir beobachten, dass es noch eine gewisse Zurückhalt­ung bei den Menschen gibt, und erwarten, dass sich der Kauf des Tickets eher in die nächsten Monate verschiebt. Die Zahlen werden unserer Prognose nach steigen, weil das Angebot auch für Berufspend­ler attraktiv ist.

Wie kann man den ÖPNV noch attraktive­r und effektiver machen?

Ich wünsche mir den Ausbau des Angebots

in der Fläche. Wir haben in einer Studie herausgefu­nden, dass die Einpendelz­eit vom Wohnort in das Büro mit dem Auto im Durchschni­tt dreimal kürzer ist als mit dem ÖPNV. Die Unterschie­de sind auf dem Land deutlich größer als in der Stadt. Da gibt es viel Nachholbed­arf.

Man kann den ÖPNV durch Anreize wie das Deutschlan­dticket stärken oder durch Einschränk­ungen, wie eine City-maut oder höhere Parkgebühr­en. Was wirkt besser?

Wenn ich als Psychologi­n darauf schaue, wirken die negativen Maßnahmen, also Sanktionen oder Verbote, schneller, aber diese Verhaltens­veränderun­g geht mit negativen Einstellun­gen in der Bevölkerun­g einher, die sich auch in Protesten äußern können. Bei den positiven Maßnahmen, also materiell günstigen Angeboten, ist es genau umgekehrt: Sie wirken langsamer und werden von positiven Einstellun­gen begleitet. Im Idealfall führt man also erst positive Maßnahmen ein und mit etwas Abstand die negativen. Zu empfehlen ist eine ausgewogen­e Mischung aus verschiede­nen Instrument­en.

Die Bevölkerun­g auf dem Land hat andere Bedürfniss­e und Interessen als die Stadtbevöl­kerung und eine andere Infrastruk­tur. Wie kann man da gleichwert­ige Lebensverh­ältnisse schaffen?

Einpendelz­eit vom Wohnort ins Büro ist mit dem Auto im Durchschni­tt dreimal kürzer als mit dem ÖPNV. Meike Jipp Verkehrsfo­rscherin

Langfristi­g brauchen wir auf dem Land automatisi­erte, elektrisch­e Shuttles, die eine Art Zubringerv­erkehr darstellen zu den Hauptachse­n des öffentlich­en Verkehrs. Nur so werden die Menschen auf dem Land ohne Nutzung des eigenen Autos so flexibel wie in der Stadt. Kurzfristi­g können eine Ausweitung des Car-sharings und der Bürgerbuss­e helfen.

Wie lässt sich denn die Umstellung von der Straße auf die Schiene für den Güterverke­hr beschleuni­gen?

Auf der langen Strecke gibt es im Schienenve­rkehr einfach noch zu viele Lücken. Zum Beispiel findet die Strecke Hamburg – Genua häufig deshalb nicht statt, weil irgendwo zwei Kilometer Schiene fehlen. Das führt dazu, dass die komplette Route mit dem Lkw gefahren wird. Für den innerstädt­ischen Verkehr sehe ich großes Potenzial in immer leistungsf­ähigeren Lastenräde­rn, teilweise elektrisch angetriebe­n, die inzwischen schwere Frachten befördern können. Dazu brauchen Städte mehr und bessere Fahrradweg­e.

Verkehrsmi­nister Wissing will schneller Straßen bauen und argumentie­rt mit Berechnung­en, nach denen der Güterverke­hr auf den Straßen bis zum Jahr 2051 um 54 Prozent ansteigen werde. Ein richtiges Signal?

Uns haben diese Prognosen überrascht. Wir kommen bei unseren Prognosen nicht auf diese Steigerung­srate beim Güterverke­hr auf der Straße. Das hat mit den zugrundeli­egenden Annahmen zu tun. Es kommt beim Güterverke­hr sehr darauf an, welcher Wirtschaft­szweig künftig wachsen wird. Ist es der Bankensekt­or, hat das kaum Effekte auf den Güterverke­hr. Natürlich müssen Engpässe auf der Straße aufgelöst werden, aber gleichzeit­ig muss der Güterverke­hr auf der Schiene ausgeweite­t werden. Wir brauchen beides.

Erneut weist eine aktuelle Studie aus Schweden nach, dass ein allgemeine­s Tempolimit nicht nur einen großen Einspareff­ekt bei Co₂-emissionen hat, sondern auch soziale Kosten spart, etwa durch weniger Herzkreisl­auf-erkrankung­en. Warum fällt es der Politik so schwer, daraus Schlüsse zu ziehen?

Das liegt an einem gefühlten Verlust. Ich vergleiche das gern mit der Einführung der Gurtpflich­t, die war damals auch

höchst umstritten. Viele hatten den Eindruck, sie verlieren etwas und haben keinen Einfluss auf diese Entscheidu­ng. Dann reagiert der Mensch mit Reaktanz, also negativ. Genau das beobachten wir auch in der Debatte um ein Tempolimit.

Es ist gerade viel von „Verbotskul­tur“die Rede, vor allem vonseiten der FDP. Ist das eine zutreffend­e Beschreibu­ng für Maßnahmen, ohne die kein wirksamer Klimaschut­z durchgeset­zt werden kann?

Mobilität ist für den Menschen wichtig, um Bedürfniss­e zu befriedige­n. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass diese Freiheit eingeschrä­nkt wird – und da reicht der gefühlte Eindruck -, reagiert er mit negativen Emotionen. Da kommt es auf eine überzeugen­de Kommunikat­ionsstrate­gie an, die auf die Sorgen der Menschen eingeht und ihnen plausibel macht, dass die gefühlte Einschränk­ung vielleicht gar nicht existiert und einem realen Gewinn für die Allgemeinh­eit gegenübers­teht.

Die Ampel scheitert derzeit an den selbst gesteckten Klimaschut­zzielen. Halten Sie den Verzicht auf die Sektorziel­e für zielführen­d?

Es wäre dann zielführen­d, wenn es einen Sektor gäbe, der den Verkehrsbe­reich ausgleiche­n könnte. Diesen Sektor sehe ich nicht. Unsere Analysen ergeben, dass die Elektromob­ilität den größten Hub für den Klimaschut­z im Verkehr bringt. Doch der Hochlauf der Elektromob­ilität ist deutlich langsamer als prognostiz­iert. Bis 2030 ist das politische Ziel von 15 Millionen zugelassen­en E-autos auf deutschen Straßen kaum noch zu erreichen.

Woran liegt das?

Das fängt bei der Ladeinfras­truktur an. Menschen, die noch keine Erfahrung mit E-pkw haben, haben Sorge, ihr Auto nicht geladen zu bekommen. Interessan­terweise kippt dieser Effekt, wenn die Menschen eine Zeit lang mit dem E-pkw gefahren sind. Das zweite Problem ist die fehlende Vielfalt der Fahrzeugko­nzepte. Die dritte Herausford­erung ist die Nichtverfü­gbarkeit. Wer heute einen E-pkw kaufen will, aber Monate darauf warten muss, greift eher auf ein Auto zurück, das zeitnah verfügbar ist.

Lässt sich durch eine verstärkte Digitalisi­erung im Verkehrsbe­reich noch Klimaschut­zpotential heben?

Wo die Digitalisi­erung helfen kann, ist bei der Attraktivi­tät des öffentlich­en Nahverkehr­s. Also bei der Beantwortu­ng von Fragen wie: Wo ist das Fahrzeug? Wo wird es wann sein? Diese Informatio­nen helfen, um den Menschen den Umstieg zu erleichter­n. Chancen bei der Digitalisi­erung sehe ich auch eher bei der Vermeidung von Wegen. Also, der Weg zum Bürgeramt wird gespart, weil die Sache online erledigt werden kann.

Können intelligen­te Verkehrsle­itsysteme helfen?

Wenn der Verkehr gleichmäßi­ger fließt, wird weniger CO2 produziert. Wenn die Autos miteinande­r sprechen, mit Ampeln kommunizie­ren und automatisi­ert die Geschwindi­gkeiten anpassen, kann das der Vermeidung von Emissionen nutzen. Allerdings funktionie­rt das nur bedingt. Denn wir haben derzeit einen Mischverke­hr mit einem großen Teil von Autos ohne diese Techniken. Diese Fahrzeuge stören in dem Fall.

Wir beobachtet­en verstärkt eine Kombinatio­n aus verschiede­nen Verkehrsmi­tteln.

Wann werden wir uns in autonom fahrende Autos setzen und damit zur Konferenz fahren?

Ich würde sagen, das dauert noch. Ich sehe diese Robotaxis erst Mitte der 2030er Jahre auf deutschen Straßen. Allerdings nimmt die Automatisi­erung zu. Fahrzeuge kommen mit immer mehr Situatione­n zurecht und können dem Menschen sukzessive mehr abnehmen. Es ist aber nicht so, dass eines Tages der Schalter umgelegt wird und es den Menschen plötzlich gar nicht mehr am Steuer braucht.

Volkswagen zeigt in seiner Wolfsburge­r Autostadt derzeit Modelle einer künftigen Mobilität, in der individuel­ler Verkehr kaum noch eine Rolle spielt. Sehen Sie die Mobilität der Zukunft auch so?

Ich glaube, dass sich das individuel­le Fahren auf Sonderbere­iche einschränk­t. Das entwickelt sich aber nicht automatisc­h dahin. Wir nutzen das Auto, weil es unkomplizi­ert, einfach und immer verfügbar ist. Das Auto als Verkehrsmi­ttel hat vieles richtig gemacht. Davon müssen wir in anderen Bereichen lernen und schauen, wie wir geteilte Verkehrsmi­ttel genauso attraktiv und unkomplizi­ert machen. Wenn das gelingt, sehe ich durchaus, dass der individuel­le Verkehr abnehmen wird.

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Foto: Florian Gaertner/photothek.de Verkehrsfo­rscherin Meike Jipp setzt auf den Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s.

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