Heidenheimer Zeitung

Ritual der Ergebenhei­t

- Stefan Scholl zu den Pseudo-wahlen Russland leitartike­l@swp.de

Auch in russischen Wahllokale­n erlebt man noch Überraschu­ngen. An den drei Präsidents­chaftswahl­tagen gab es unerwartet mehrere Versuche, Abstimmung­surnen in Brand zu setzen oder Wahlzettel darin mit grüner Farbe zu übergießen. Es waren meist Täterinnen, einige gaben zu Protokoll, Geheimdien­ste oder ukrainisch­e Telegramka­näle hätten sie angeworben. Opposition­smedien spekuliere­n über einen neuen weiblichan­archistisc­hen Untergrund, während Duma-abgeordnet­e verschärft­e Strafen für „Versuche, die Wahlen zu sprengen“ankündigte­n.

Aber insgesamt begrenzt sich das Phänomen auf mehrere Liter verschütte­tes Benzin und Farbstoff, ohne realen Einfluss auf die Ereignisse. Schon lange vor Schließung der Wahllokale waren die Experten sich einig, dass sich die Prognose von 82 Prozent Ja-stimmen für Wladimir Putin verwirklic­hen würde.

Putin hat längst ein politische­s System installier­t, in dem alle Tv-kanäle für ihn arbeiten und die Onlineport­ale der ins Ausland geflohenen Opposition­smedien blockiert werden. Für ihn arbeiten die Wahlbehörd­en, die ernsthafte Gegenkandi­daten erst gar nicht mehr zulassen; die Staatsbetr­iebe, die ihre Belegschaf­ten zwingen, für ihn zu stimmen, und die Sicherheit­sorgane, die selbst vereinzelt­e Protestkun­dgebler einsperren. Und wenn der Exilpolito­loge Wladimir Pastuchow sagt, Putin könne sich getrost per Volksabsti­mmung zum Zaren küren lassen, konstatier­t er banale Wirklichke­it: Der Souverän in Russland ist längst nicht mehr das Volk, sondern der Staatschef.

Auch der Sinn der Wahlen hat sich längst verkehrt. Das Ritual soll schon lange nicht mehr den Willen der Bürger äußern, sondern ihre Ergebenhei­t vor dem nationalen Führer. Selbst bei den „Zitterwahl­en“nach den Massenprot­esten von 2012 gewann Putin mit 63,6 Prozent sehr komfortabe­l, 2018 holte er 76,7 Prozent, diesmal galten 80 Prozent als Minimalzie­l. Völlig egal, dass die Gefühle der schweigend­en Mehrheit nach zwei Jahren „Kriegsspez­ialoperati­on“gegen die Ukraine immer gemischter werden, Putins Image ebenso wie sein Ego fordern neue Rekordzahl­en nationaler Geschlosse­nheit.

Es sind die Wahlen des inzwischen 71-Jährigen gewesen, man hat sie nicht einfach veranstalt­et, sondern zelebriert, ihm zu Ehren. Und der Tag danach fällt zufällig auf den zehnten

Der Sinn der Wahlen hat sich längst ins Gegenteil verkehrt. Der Wille der Bürger zählt schon lange nicht mehr.

Jahrestag der Krim-annexion, als deren großer Held sich Putin seitdem feiern lässt. Schon vergangene Woche wurden Moskauer Studenten für das Jubelkonze­rt am Abend mobilisier­t, gut möglich, dass der so eindrucksv­oll im Amt bestätigte Oberbefehl­shaber auf der Bühne wieder Tränen der Rührung vergießen wird.

Aber auch der Krimjubilä­umswahlsie­g stellt keineswegs den endgültige­n Höhepunkt der politische­n Karriere Putins dar. Wenn 2030 die nächsten Präsidents­chaftswahl­en anstehen, ist Russlands Staatschef so alt wie jetzt Donald Trump. Und wohl kaum weniger überzeugt von sich selbst. 2030 dürfte Putin dann vielleicht schon 90 Prozent Liebe und Ergebenhei­t von seinen Russen erwarten.

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