Ritual der Ergebenheit
Auch in russischen Wahllokalen erlebt man noch Überraschungen. An den drei Präsidentschaftswahltagen gab es unerwartet mehrere Versuche, Abstimmungsurnen in Brand zu setzen oder Wahlzettel darin mit grüner Farbe zu übergießen. Es waren meist Täterinnen, einige gaben zu Protokoll, Geheimdienste oder ukrainische Telegramkanäle hätten sie angeworben. Oppositionsmedien spekulieren über einen neuen weiblichanarchistischen Untergrund, während Duma-abgeordnete verschärfte Strafen für „Versuche, die Wahlen zu sprengen“ankündigten.
Aber insgesamt begrenzt sich das Phänomen auf mehrere Liter verschüttetes Benzin und Farbstoff, ohne realen Einfluss auf die Ereignisse. Schon lange vor Schließung der Wahllokale waren die Experten sich einig, dass sich die Prognose von 82 Prozent Ja-stimmen für Wladimir Putin verwirklichen würde.
Putin hat längst ein politisches System installiert, in dem alle Tv-kanäle für ihn arbeiten und die Onlineportale der ins Ausland geflohenen Oppositionsmedien blockiert werden. Für ihn arbeiten die Wahlbehörden, die ernsthafte Gegenkandidaten erst gar nicht mehr zulassen; die Staatsbetriebe, die ihre Belegschaften zwingen, für ihn zu stimmen, und die Sicherheitsorgane, die selbst vereinzelte Protestkundgebler einsperren. Und wenn der Exilpolitologe Wladimir Pastuchow sagt, Putin könne sich getrost per Volksabstimmung zum Zaren küren lassen, konstatiert er banale Wirklichkeit: Der Souverän in Russland ist längst nicht mehr das Volk, sondern der Staatschef.
Auch der Sinn der Wahlen hat sich längst verkehrt. Das Ritual soll schon lange nicht mehr den Willen der Bürger äußern, sondern ihre Ergebenheit vor dem nationalen Führer. Selbst bei den „Zitterwahlen“nach den Massenprotesten von 2012 gewann Putin mit 63,6 Prozent sehr komfortabel, 2018 holte er 76,7 Prozent, diesmal galten 80 Prozent als Minimalziel. Völlig egal, dass die Gefühle der schweigenden Mehrheit nach zwei Jahren „Kriegsspezialoperation“gegen die Ukraine immer gemischter werden, Putins Image ebenso wie sein Ego fordern neue Rekordzahlen nationaler Geschlossenheit.
Es sind die Wahlen des inzwischen 71-Jährigen gewesen, man hat sie nicht einfach veranstaltet, sondern zelebriert, ihm zu Ehren. Und der Tag danach fällt zufällig auf den zehnten
Der Sinn der Wahlen hat sich längst ins Gegenteil verkehrt. Der Wille der Bürger zählt schon lange nicht mehr.
Jahrestag der Krim-annexion, als deren großer Held sich Putin seitdem feiern lässt. Schon vergangene Woche wurden Moskauer Studenten für das Jubelkonzert am Abend mobilisiert, gut möglich, dass der so eindrucksvoll im Amt bestätigte Oberbefehlshaber auf der Bühne wieder Tränen der Rührung vergießen wird.
Aber auch der Krimjubiläumswahlsieg stellt keineswegs den endgültigen Höhepunkt der politischen Karriere Putins dar. Wenn 2030 die nächsten Präsidentschaftswahlen anstehen, ist Russlands Staatschef so alt wie jetzt Donald Trump. Und wohl kaum weniger überzeugt von sich selbst. 2030 dürfte Putin dann vielleicht schon 90 Prozent Liebe und Ergebenheit von seinen Russen erwarten.