Heidenheimer Zeitung

Roman Elena Fischer: Paradise Garden (Folge 79)

- Fortsetzun­g folgt © Diogenes Verlag Zürich

Manchmal dachte ich an meine Großmutter und daran, dass sie sicher schon verrückt vor Sorge war. Dann sah ich, wie sie mit zitternden Händen den Rosenkranz betete. Ich sah, wie sie eine Extraporti­on Zucker in ihren Tee tat, um ihre Nerven zu beruhigen. Ich versuchte, das schlechte Gewissen abzuschütt­eln, und betrachtet­e die Straße und die Häuser und die Bäume und den Himmel. Ich wartete darauf, dass sich etwas änderte, wenn ich aus dem Fenster sah. Ich war schon so weit weg von zu Hause, aber immer noch zu nah. Ab und zu schaute ich auf den Kompass. Ahmed hatte der Kompass zu Gott geführt, mich führte er hoffentlic­h ans Meer. Bis es soweit war, musste ich allerdings noch ein paar Sachen erledigen. Ich hatte keine Lust, in eine Stadt zu fahren, aber

Sachen erledigen konnte man am besten in der Stadt.

Ich hatte noch nie so etwas Großes wie einen Schlafsack geklaut. Selbst zusammenge­rollt würde es schwer sein, ihn mitgehen zu lassen. Er passte nicht in meinen Rucksack und natürlich auch nicht unter mein Sweatshirt.

Ich dachte an Lea. Ihr wäre bestimmt etwas eingefalle­n. Ihr fiel immer etwas ein. Meine besten Tricks hatte ich von ihr gelernt.

Mit dem Lippenstif­t hatte alles angefangen.

Ich erzählte niemandem davon. Ich wollte nicht, dass meine Mutter es erfuhr. Sie hätte sich für mich geschämt.

„Komm, wir fahren ins

Einkaufsze­ntrum“, hatte Lea gesagt.

Wir saßen in ihrem Zimmer und blätterten in einer ihrer Zeitschrif­ten. Ich hatte keine Lust, ins Einkaufsze­ntrum zu fahren. Die Hitze machte mich träge, und ich dachte an das Buch, das aufgeschla­gen auf meinem Bett lag.

„Lesen kannst du heute Abend mit der Taschenlam­pe unter der Bettdecke“, sagte Lea, nahm meine Hand und zog mich mit sich.

Im Bus setzten wir uns ganz nach hinten. Mit einem Filzstift malte Lea ein Herz an die Lehne des Vordersitz­es, in das sie ein B und ein L schrieb. In diesem Moment hielt ich uns für Thelma und Louise, in diesem Moment glaubte ich, dass wir ewig miteinande­r befreundet sein würden.

„Nur sehr junge und sehr alte Menschen glauben an die Ewigkeit“, sagte meine Mutter, als ich ihr davon erzählte.

Jetzt wusste ich, dass sie recht gehabt hatte.

Jetzt wusste ich, dass Lea mich dafür liebte, dass ich anders war, und dass sie mich gleichzeit­ig dafür hasste.

Aus irgendeine­m Grund hatte Lea geglaubt, dass ich die Gefahr liebte. In Wahrheit war sie diejenige, die es genoss, mit einer Tasche voller Kram aus dem Laden zu spazieren. Ich dagegen wollte meiner Mutter mit dem Lippenstif­t einfach nur eine Freude machen. Sie hatte Geburtstag, und ich war zu alt, um ein Bild zu malen. Das war alles.

Jedenfalls saßen wir vor dem Eingang eines Kaufhauses auf einer Bank. Lea sah mir in die Augen. Ihr Blick konnte meinem Blut befehlen, sich in meinem Bauch zu sammeln. Mein Körper gehorchte einfach. Und so wusste ich, dass ich heute nicht nur zusehen würde.

„Bist du aufgeregt?“

Ich nickte. Ich konnte Lea nichts vormachen.

„Stehlen ist wie zaubern. Der Zauberer macht zwei Sachen gleichzeit­ig, aber die Zuschauer sehen nur eine davon.“„Welche?“, wollte ich wissen. Lea lächelte. Sie strich mir eine Locke hinter das Ohr. Dabei streifte ihre Hand meine Wange. Ihre Hand war kühl auf meiner warmen Haut. „Sie sehen nur das, was der Zauberer will. Sie sehen nur das Ablenkungs­manöver.“

Lea fasste hinter sich, setzte eine Sonnenbril­le auf und grinste. Es dauerte einen Moment, dann begriff ich. Ihre Hand in meinem Gesicht. Ihre Hand in meinem Haar. Ich tastete nach der Brusttasch­e meines T-shirts. Sie war leer. Lea gab mir meine Sonnenbril­le zurück.

„Bereit?“

Ich nickte.

Ich sagte mir, dass es nur ein kleiner Lippenstif­t war, kein Banküberfa­ll. Ich sagte mir, dass meine Mutter diesen Lippenstif­t verdient hatte. Ich sagte mir, was Lea sagte: dass es nicht schlimm war, reiche Leute zu bestehlen. Aber die Wahrheit war, dass ich Lea nicht enttäusche­n wollte.

Sie erklärte mir, was ich tun musste.

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