Drohende Überforderung
Mehr Fortschritt wagen“hatte die Ampel vor zweieinhalb Jahren über ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Gemeint war damit vor allem auch die Gesellschaftspolitik – das Feld, auf dem die drei unterschiedlichen Partner ihre größten Gemeinsamkeiten sahen. Und nach 16 Jahren unionsgeführter Regierung auch jede Menge Nachholbedarf. Doch dann mussten SPD, Grüne und FDP eine Pandemie bekämpfen und mit einem Krieg in Europa sowie der folgenden Energie- und Wirtschaftskrise fertigwerden – inklusive all jenen spektakulären internen Konflikten.
Nun aber häufen sich plötzlich die gesellschaftspolitischen Reformaktivitäten: Änderung des Namensrechts, Kampf gegen Gehsteigbelästigung, erleichterte Änderung des Geschlechtseintrags bei den Behörden. Und spätestens wenn das Kommissionsgutachten
zur Abtreibung nächste Woche offiziell vorgestellt wird, dürfte die Debatte über eine Reform des Paragrafen 218 voll entbrennen.
Diese Häufung mag daran liegen, dass nach den Ausnahmezuständen endlich einmal Zeit dafür ist, sowie auch daran, dass es zugleich höchste Zeit ist: Die Ampel biegt in ihr letztes Jahr ein. Besonders geschickt gesteuert wurde das Ganze offenbar nicht: Statt die Bevölkerung in den heiklen Fragen, die einiges Streit- und Spaltpotenzial haben, schonend und
Schritt für Schritt mitzunehmen, droht nun Überforderung durch Überfrachtung. Schon gehen sogar die ersten Koalitionäre auf Distanz. Den Schaden hätten am Ende nicht nur die Betroffenen und ihre Anliegen, sondern auch die Ampel selbst: Wenn sie nämlich nicht mal ihre vermeintlichen Gewinnerthemen in einen echten Erfolg verwandeln kann.