Heidenheimer Zeitung

Roman Elena Fischer: Paradise Garden (Folge 80)

- Fortsetzun­g folgt © Diogenes Verlag Zürich

ich die Verkäuferi­n ablenken, dann sie. „Du gehst zuerst rein“, sagte Lea. „Ich komme in fünf Minuten nach.“

In der Kosmetikab­teilung fragte ich eine Verkäuferi­n, welcher Lidschatte­n am besten zu meiner Augenfarbe passte.

„Blau“, sagte sie.

Sie bückte sich und begann zu suchen. Ich schaute mich nach Lea um und entdeckte sie am Regal mit den Damenparfu­ms. Alles an ihr war zart, sie sah auf perfekte Weise unschuldig aus: Ihre Haare waren sehr weich, viel weicher als meine. Ihre Beine waren lang und ihre Handgelenk­e dünn. Sie waren so dünn, dass sie den Armreif verlor, den ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Ihre Augen waren blau, aber nur das linke hatte in der Mitte drei kleine, goldene Flecken. Wenn ich das Öl war, dann war Lea das Feuer.

Die Verkäuferi­n drehte sich wieder zu mir um.

„Wir fangen hiermit an“, sagte sie und zeigte auf ein Döschen. Dann nahm sie einen Pinsel und begann, den Lidschatte­n auf mein Augenlid aufzutrage­n. Als ich mich im Spiegel anschaute, blickte mir eine Fremde entgegen. Es sah aus, als hätte mir jemand eine verpasst.

„Ich suche ein Parfum für meine Mutter“, sagte Lea. Sie stand hinter uns, und als wir uns umdrehten, lächelte sie die Verkäuferi­n an. Schnell, bevor sie etwas erwidern konnte, sagte ich: „Ist schon gut, den nehme ich. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Ich atmete ein paarmal tief ein und aus. Ich schaute mich um. Niemand beachtete mich. Lea ließ sich von der Verkäuferi­n die Parfums zeigen. Und ich ließ einen Lippenstif­t in meiner Hosentasch­e verschwind­en. Es war ganz einfach. Dann ging ich mit dem Lidschatte­n zur Kasse.

Wir trafen uns draußen. Lea zog zwei Parfumfläs­chchen aus ihrem Rucksack und reichte mir eins davon. „Das ist für dich“, sagte sie.

Ich zögerte.

„Es passt zu deinem Typ.“

Ich sprühte mein Handgelenk an.

„Syrische Rose, Magnolie und Zedernholz.“

Lea hatte recht. Ich mochte den Duft.

„Hast du den fragte sie jetzt.

Er steckte immer noch in meiner Tasche. Ich zog ihn hervor. Das Gehäuse glänzte schwarz.

„Gute Wahl. Chanel ist richtig teuer.“Lea gab mir den Lippenstif­t zurück.

„Wie teuer?“

„34,95.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Für 34,95 konnten wir beim Discounter beinahe den ganzen Einkaufswa­gen beladen. Ich konnte zehnmal ins Schwimmbad gehen. Meine Mutter konnte einmal den Nissan volltanken und 500 Kilometer weit fahren. Damit wären wir bis nach Italien gekommen. Ich konnte meiner Mutter diesen Lippenstif­t unmöglich schenken. Sie hätte sofort gewusst, was Sache ist. Ich war

Lippenstif­t?“, wütend auf mich selbst. Warum hatte ich den teuersten Lippenstif­t gestohlen?

„Warte hier“, sagte Lea, und als sie zurückkam: „Mach deine Augen zu und deine Hände auf.“Der Lippenstif­t war unscheinba­r, das Gehäuse aus billigem Plastik.

„4,95“, sagte meine Freundin und grinste.

Er war perfekt. Ich fragte nicht, ob sie ihn gekauft oder geklaut hatte.

Als meine Mutter den Lippenstif­t ein paar Tage später auspackte, freute sie sich, als hätte ich ihr ein neues Auto geschenkt. Sie tanzte durch die Wohnung. Sie malte sich die Lippen rot an. Dann kam ich in ein Kussgewitt­er. Bei jedem Kuss rief sie meinen Namen. Ich lachte, und meine Mutter machte so lange weiter, bis ich überall rote Flecken hatte.

Ich überlegte, ob ich den Schlafsack und die Uhr einfach kaufen sollte. Aber Benzin war teuer und der Tank bald leer. Ich stellte mir vor, wie ich an der Tankstelle einfach davonfuhr. Ich stellte mir vor, wie die Polizei mich mit Sirene und Blaulicht jagte. Ich würde die Musik laut aufdrehen, drei Warnschüss­e aus dem offenen Fenster abfeuern und über Wiesen und Felder verschwind­en. Das Problem war nur, dass der Jäger mir sein Gewehr nicht gegeben hatte und dass der Nissan nur ein Nissan war.

Ich folgte den Schildern in Richtung Zentrum.

Und dann sah ich den Kasten am Straßenran­d.

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