Heidenheimer Zeitung

Satt und faul?

- Guido Bohsem zu aktuellen Arbeitsmor­al in Deutschlan­d leitartike­l@swp.de

Die Ursprünge des 1. Mai liegen in den USA. Zu diesem Termin liefen üblicherwe­ise die Arbeitsver­träge aus. Für viele Arbeiter bedeutete das Datum eine existenzie­lle Bedrohung. Häufig waren sie gezwungen, sich einen neuen Job in einer anderen Stadt, in einem anderen Bundesstaa­t zu suchen. Aus diesem Grund kam es immer wieder zu Protesten und auch Ausschreit­ungen. Damals konnten sich die Unternehme­r ihre Beschäftig­ten aussuchen. Das Angebot der Arbeitskrä­fte überstieg das Angebot der Arbeitsste­llen bei Weitem. So war es fast immer in der Wirtschaft­sgeschicht­e.

Daran zeigt sich, wie selten die Situation vorkommt, in der sich der Wirtschaft­sstandort Deutschlan­d aktuell befindet. Das Angebot an Stellen ist größer als die Nachfrage. Am diesjährig­en Tag der Arbeit dominieren daher historisch ungewöhnli­che Themen die Debatte: steuerfrei­e Überstunde­n, Vier-tage-woche (mit vollem Lohnausgle­ich), Homeoffice, gezielte Anwerbung von Fachkräfte­n im Ausland, Automatisi­erung auch persönlich­er Dienstleis­tungen etwa in der Pflege, Work-life-balance. Es ist die Stunde der Arbeitnehm­er, wie es scheint.

Die Knappheit hat eine große Ursache und viele kleinere. Wichtigste­r Faktor ist der demografis­che Wandel. Die Babyboomer verabschie­den sich langsam in die Rente. Die folgenden Generation­en sind zahlenmäßi­g kleiner, weshalb die Zahl der Arbeitskrä­fte sinkt. Hinzu kommt, dass die jüngeren Arbeitnehm­er im Schnitt weniger arbeiten als ihre Generation­en-vorgänger. Die aktuell gut 45 Millionen Erwerbstät­igen arbeiten in Stunden gerechnet so viel wie die 40 Millionen im Jahr 1991. Der Anteil der Frauen in Vollzeit sinkt, der Anteil der Männer in Teilzeit steigt. Der hohe Lebensstan­dard und die Gewissheit, zur Not auch eine andere Stelle zu finden, lässt die Arbeitnehm­er Freizeit höher schätzen als Geld. Werte wie Familie und eine Sinnsuche außerhalb des Betriebs wiegen in diesen Zeiten ungleich schwerer.

Klar ist, die neue Arbeitsmor­al belastet die Wirtschaft. Die Konjunktur brummt auch deshalb nicht, weil die Deutschen nicht mehr arbeiten, stellte jüngst nicht FDP-CHEF Christian Lindner, sondern Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) fest.

Als Chef ist das anstrengen­der als das „Alles hört auf mein Kommando“der alten Zeiten.

Wer diese Gemengelag­e böse betrachtet, so wie es manche Wirtschaft­sführer tun, könnte auch sagen: Die Deutschen sind satt und faul geworden. Das kann man richtig finden oder auch nicht, eine andere Arbeitnehm­erschaft hat das Land nun mal nicht anzubieten. Es gilt also, den vorhandene­n Willen bestmöglic­h zu nutzen. Als Chef ist das anstrengen­der als das „Alles hört auf mein Kommando“der alten Zeiten. Mitarbeite­r wollen umworben und beteiligt werden, sie möchten Anerkennun­g und Motivation, sie wollen eine sinnhaltig­e Arbeit und das in einer möglichst freundlich­en Atmosphäre. Gelingt das, löst sich womöglich auch das zweite Grundübel des Arbeitsmar­ktes auf, der geringe Anstieg der Produktivi­tät. Zufriedene Arbeiter arbeiten nämlich nicht nur mehr, sie arbeiten auch besser.

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