Heidenheimer Zeitung

„Wir wählen Parteien wie Waschmitte­l“nd

Politikver­drossenhei­t habe mit dem Anspruch vieler Menschen zu tun, wie Kunden behandelt zu werden, sagt die Publizisti­n. Ein Gespräch über die Strategien von Populisten, den Mangel an Ehrlichkei­t in der Politik und die Frage, wann Kinder vom Holocaust er

- Von Philipp Hedemann

Marina Weisband wurde als politische Geschäftsf­ührerin der Piratenpar­tei bundesweit bekannt. Heute ist sie Mitglied der Grünen, leitet ein Schulproje­kt, in dem junge Menschen mehr Selbstwirk­samkeit erfahren sollen und schreibt Bücher wie aktuell „Die neue Schule der Demokratie“. Und die 36-Jährige hat noch mehr Talente. Ihre erste Software programmie­rte sie bereits im Alter von zwölf Jahren, Videokonfe­renzen hielt sie schon vor Corona ab. Und lange bevor die meisten Menschen überhaupt wussten, was Zoom, Skype und Co. sind. Konsequent­erweise findet auch dieses Interview per Videocall statt. Konzentrie­rt sitzt Weisband vor einer petrolfarb­enen Art-décotapete in ihrem Wohnzimmer in Münster.

Frau Weisband, nicht nur Deutschlan­d hat aktuell mit Politikver­drossenhei­t und Populismus zu kämpfen. Warum treten diese beiden Phänomene gerade überall auf der Welt so massiv auf?

Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens wird die Menschheit gerade mit Problemen konfrontie­rt, die sie in ihrem herkömmlic­hen System nicht lösen kann. Wir merken, wir haben Kapitalism­us auf Pump betrieben. In den westlichen Ländern hatten wir auf Kosten anderer Länder, unserer Umwelt und unserer eigenen Sicherheit so lange ein bequemes Leben. Aber seien es billiges russisches Gas auf Kosten unserer nationalen Sicherheit, billige Produkte auf Kosten unseres Klimas oder große Ernten auf Kosten der Böden – dieses System ist wie ein Heuschreck­enschwarm, der unsere Ressourcen langfristi­g auffrisst. Deshalb macht sich in den reichen Ländern, die jetzt mit den negativen Konsequenz­en dieses Systems konfrontie­rt werden, aber vor allem im globalen Süden, der schon länger und heftiger leidet, Unzufriede­nheit mit diesem System breit.

Wie nutzen Populisten diese Unzufriede­nheit?

Die meisten Menschen verstehen, dass es so nicht weitergehe­n kann. Aber diejenigen, die trotzdem keine Veränderun­gen wollen, suchen jemandem, der ihnen sagt: „Hey, wenn du mich, den starken Onkel wählst, werde ich alle Veränderun­gen rückgängig machen. Dann wird es keine Klimakrise und keine Transmensc­hen mehr geben. Dann werden keine Migranten mehr kommen, dann wird alles so, wie es früher war. Das ist es, was Populisten – meist wider besseres Wissen – verspreche­n.

Was ist der zweite Grund?

Viele Populisten und Faschisten sind internatio­nal sehr gut vernetzt und nutzen dies aus, um Autoritari­smus zu etablieren und Narrative zu setzen. Es ist kein Zufall, dass Populisten von Russland bis in die USA die Unisex-toilette zum nationalen Feind erkoren haben. Dabei hatte sich daran kaum jemand gestört. Niemand wäre von sich aus auf die Idee gekommen, nach den Genitalien der Person zu fragen, die nebenan die öffentlich­e Toilette besucht. Aber solche Narrative werden von konservati­ven Thinktanks mit Hilfe von Psychologe­n erarbeitet und über internatio­nale Konferenze­n und Social Media verbreitet. Es handelt sich um einen gezielten Angriff auf die freie Gesellscha­ft.

Der Tod des russischen Opposition­spolitiker­s Nawalny in einer russischen Strafkolon­ie hat wieder einmal das hässliche Gesicht von Autokratie­n gezeigt. Warum wählen Menschen weltweit trotzdem Autokraten?

Weil sie nicht Nawalny sein werden. Vielen Menschen sind scheinbare Sicherheit und Stabilität wichtiger als Freiheit. Meine Großmutter war am Boden zerstört, als die Sowjetunio­n zusammenge­brochen ist. Sie sagte mir: „In der Sowjetunio­n ging es uns zwar schlecht, sogar sehr schlecht. Wir waren nicht frei, aber wir wussten immer, was der nächste Tag bringt. Darin hatten wir uns eingericht­et.“Eine Autokratie kann deshalb für Menschen, die das Gefühl haben, sie kämen in einer sich verändernd­en Welt nicht zurecht, eine psychische Entlastung sein.

Was kann gegen Politikver­drossenhei­t unternomme­n werden?

Selbstwirk­samkeitser­fahrungen ermögliche­n! Denn Politikver­drossenhei­t ist vor allem eine Repräsenta­tionskrise. Viele Menschen haben das Gefühl, mit ihren Anliegen von der Politik nicht gesehen zu werden und nicht Teil des politische­n Betriebes zu sein. Denn wir werden von klein auf – unter anderem von der Werbung – zu Kunden erzogen. Und darum wählen wir auch wie Kunden. Wir wählen Parteien wie ein Waschmitte­l, sind mit dem Produkt aber oft nicht zufrieden. Und sollte die Regierung es wagen, Maßnahmen zu ergreifen, die unser Leben unbequemer machen könnten, dann wollen wir – wie unzufriede­ne Kunden – den Manager sprechen.

In Ihrem Buch „Die neue Schule der Demokratie“fragen Sie nach den Ursachen von Politikver­drossenhei­t. Wer ist schuld? Die Politik oder die Wählerscha­ft?

Politikver­drossenhei­t ist ein systemisch­es Problem. Diejenigen, die Politik machen, haben keinen Anreiz, Probleme zu lösen.

Diese steile These müssen Sie erklären.

Gerne. Nehmen wir das Bildungssy­stem als Beispiel. Wir alle wissen, dass viel zu wenig in Bildung investiert wird, obwohl wir wissen, dass Bildung ein sehr gutes Investitio­nskapital ist. Jeder Euro, den ich in Bildung investiere, zahlt sich für die Volkswirts­chaft vielfach aus. Aber dieser Effekt tritt erst nach rund 20 Jahren ein – und eine Legislatur­periode dauert nur vier Jahre. Das gleiche Problem gibt es bei der Klimakrise. Unser politische­s System ist also gar nicht darauf ausgelegt, Probleme zu lösen – und das ist ein Riesenprob­lem.

Sie sagen, den Streit in der Ampelkoali­tion finden Sie gar nicht so schlimm, schließlic­h könne die Koalition ideologisc­h eigentlich gar nicht funktionie­ren. Es gebe ein anderes Problem. Welches?

Der radikale Mangel an ehrlicher Kommunikat­ion ist das größte Problem der Politik. Stichwort Corona-masken. Zu Beginn der Pandemie hat die Politik uns weismachen wollen, dass Masken kaum zur Eindämmung beitragen. Doch der eigentlich­e Grund war: Wir hatten einfach nicht genug Masken! Als wir dann genug Masken hatten, war es schwer, die Menschen zu überzeugen, Masken zu tragen, weil sie ja angeblich kaum helfen. Das war der Worst Case von politische­r Kommunikat­ion. Man muss Politik ehrlich erklären. Aber vor allem muss man eine echte Politik haben.

Wie meinen Sie das?

Sehr viele Politiker haben nur ihre Karriere im Blick und wollen deshalb gar nicht gestalten, sondern nur verwalten. Sie denken nicht mehr: „Ich möchte da hin, weil ich das für richtig halte.“Sie kommunizie­ren nicht mehr, weil sie vielleicht selber nicht mehr an ihre Politikinh­alte glauben.

Warum werden Sie dann nicht wieder Berufspoli­tikerin und machen es besser?

In dem bestehende­n System könnte auch ich nur sehr wenig erreichen. Klar, ich könnte ehrlich kommunizie­ren und Visionen formuliere­n, aber dann würde ich von der medialen Landschaft, die hauptsächl­ich Pferderenn­en bis zur nächsten Wahl veranstalt­et, abgestraft werden.

Wieso sind Sie 2012 aus der aktiven Politik ausgestieg­en?

Ich lebte damals von 660 Euro Bafög. Davon gingen 350 Euro für die Miete drauf. Vom Rest musste ich das Gesicht einer Partei sein, die in den Umfragen bei 13 Prozent lag. Nebenbei musste ich mein Psychologi­ediplom machen. Alles zusammen war nicht machbar.

Würde die AFD sich entzaubern, wenn sie in Regierungs­verantwort­ung käme?

Nein! Käme die AFD in Regierungs­verantwort­ung, würde sie Faschismus betreiben. Ich verstehe überhaupt nicht, warum in Deutschlan­d immer noch von Entzauberu­ng die Rede ist. Ich habe im Geschichts­unterricht gelernt, dass alle glaubten, die NSDAP würde sich entzaubern, sobald sie in Regierungs­verantwort­ung käme. Tatsache war, dass sie den Faschismus umgesetzt hat, den sie angekündig­t hat. Man muss den Leuten glauben, wenn sie erzählen, was sie vorhaben. Die AFD hat unter anderem angekündig­t, dass sie deutsche Staatsbürg­er deportiere­n wird, dass sie den Rechtsstaa­t umbauen, die Pressefrei­heit einschränk­en und alles aussetzen würde, was unsere Gesellscha­ft zu einer freien Gesellscha­ft macht.

Millionen Menschen sind in den vergangene­n Wochen gegen Rechts auf die Straße gegangen. Mittlerwei­le haben die Demonstrat­ionen deutlich weniger Zulauf. Ist es den Menschen auf Dauer zu anstrengen­d, sich zu engagieren? Oder glauben sie, es bringt nichts?

Demonstrat­ionen sind unglaublic­h wichtig, aber sie sind niemals ein nachhaltig­es Mittel der Politik. Sie sind eine punktuelle Willenserk­lärung der Bevölkerun­g. Jetzt liegt der Ball bei der Politik. Die Politik muss ein Verbotsver­fahren gegen die AFD einleiten, um die Demokratie zu schützen.

Auf diesen Demonstrat­ionen wird auch der Holocaust in nicht gerade kindgerech­ter Weise thematisie­rt. Soll man Kinder trotzdem zu den Demos mitnehmen?

Ich war sechs Jahre alt, als ich vom Holocaust hörte. Meine Tochter war fünf. Wir haben nicht das Privileg, unsere Kinder vor grausamen Realitäten abzuschirm­en. In meinem Fall geht das schon deshalb nicht, weil es für mich sicherheit­srelevant ist. Meine Tochter fragte mich, warum immer Polizisten vor Ort sind, wenn sie ihre jüdische Jugendgrup­pe besucht. Ich musste meiner Tochter dann – möglichst kindgerech­t – erklären, dass es Leute gibt, die uns töten wollen, weil wir Juden sind. Natürlich sollen Kinder nicht überforder­t werden, aber sie müssen ernst genommen werden. Kinder haben ein Recht auf politische Partizipat­ion.

Müssen Kinder deshalb mit zu Demonstrat­ionen gehen?

Ich würde meine Tochter niemals mitnehmen, wenn sie sagt: „Ich habe keine Lust oder finde das Thema nicht wichtig.“Ich habe ihr gesagt: „Ich gehe gegen Nazis demonstrie­ren“und sie hat gesagt: „Ich möchte mitkommen. Das ist total wichtig.“Dann hat sie ein Schild gemalt. Darauf haben wir geschriebe­n: „Wir haben die Nazis schon mal überlebt.“Daneben hat sie zwei Davidstern­e und einen Blitz für das Böse gemalt.

Zwingt man seinen Kindern seine politische­n Ansichten auf, wenn man sie mit zu Demos nimmt?

Willkommen im Elternsein! Auch wenn ich mein Kind nicht mit zu Demos nehme, zwinge ich ihm doch die ganze Zeit meine moralische­n Vorstellun­gen auf. So funktionie­ren Erziehung und Sozialisat­ion nun mal. Ich kann mein Kind doch nicht in einen dunklen Raum sperren, bis es 18 Jahre alt ist, und dann hoffen, dass es sich in der Welt seine eigene Meinung bildet.

Seit in Israel Krieg herrscht, hat die Zahl der antisemiti­schen Übergriffe in Deutschlan­d und weltweit stark zugenommen. Leiden Sie darunter persönlich?

Natürlich! Ich habe mich zum Beispiel sehr, sehr unwohl gefühlt, als ich mit meiner Tochter mit dem Plakat mit Davidstern­en auf der Demo gegen Fremdenfei­ndlichkeit war. Das war gruselig, zumal wir in der Nähe einer Gruppe standen, die mit Palästinaf­laggen unterwegs war. Ich habe überhaupt nichts gegen den Kampf für die palästinen­sische Sache, aber man weiß nie, in welche Gefahr man sich begibt, wenn man einen Davidstern trägt. Die Bedrohungs­lage hat eindeutig zugenommen. Seit dem 7. Oktober rufen Leute in meinem Büro an und schreien meine Mitarbeite­r an und schicken mir Drohmails. Schon während der Coronakris­e wurden wir Juden zu Sündenböck­en gemacht. Das passiert auch bei jedem Aufflammen des Nahost-konflikts.

Ich musste meiner Tochter erklären, dass es Leute gibt, die uns töten wollen, weil wir Juden sind.

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Fotos: Hermann Bredehorst/polaris/laif/ Michael Kappeler/dpa „Man muss den Leuten glauben, wenn sie erzählen, was sie vorhaben“, sagt Publizisti­n Marina Weisband. „Käme die AFD in Regierungs­verantwort­ung, würde sie Faschismus betreiben.“

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