„Wir wählen Parteien wie Waschmittel“nd
Politikverdrossenheit habe mit dem Anspruch vieler Menschen zu tun, wie Kunden behandelt zu werden, sagt die Publizistin. Ein Gespräch über die Strategien von Populisten, den Mangel an Ehrlichkeit in der Politik und die Frage, wann Kinder vom Holocaust er
Marina Weisband wurde als politische Geschäftsführerin der Piratenpartei bundesweit bekannt. Heute ist sie Mitglied der Grünen, leitet ein Schulprojekt, in dem junge Menschen mehr Selbstwirksamkeit erfahren sollen und schreibt Bücher wie aktuell „Die neue Schule der Demokratie“. Und die 36-Jährige hat noch mehr Talente. Ihre erste Software programmierte sie bereits im Alter von zwölf Jahren, Videokonferenzen hielt sie schon vor Corona ab. Und lange bevor die meisten Menschen überhaupt wussten, was Zoom, Skype und Co. sind. Konsequenterweise findet auch dieses Interview per Videocall statt. Konzentriert sitzt Weisband vor einer petrolfarbenen Art-décotapete in ihrem Wohnzimmer in Münster.
Frau Weisband, nicht nur Deutschland hat aktuell mit Politikverdrossenheit und Populismus zu kämpfen. Warum treten diese beiden Phänomene gerade überall auf der Welt so massiv auf?
Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens wird die Menschheit gerade mit Problemen konfrontiert, die sie in ihrem herkömmlichen System nicht lösen kann. Wir merken, wir haben Kapitalismus auf Pump betrieben. In den westlichen Ländern hatten wir auf Kosten anderer Länder, unserer Umwelt und unserer eigenen Sicherheit so lange ein bequemes Leben. Aber seien es billiges russisches Gas auf Kosten unserer nationalen Sicherheit, billige Produkte auf Kosten unseres Klimas oder große Ernten auf Kosten der Böden – dieses System ist wie ein Heuschreckenschwarm, der unsere Ressourcen langfristig auffrisst. Deshalb macht sich in den reichen Ländern, die jetzt mit den negativen Konsequenzen dieses Systems konfrontiert werden, aber vor allem im globalen Süden, der schon länger und heftiger leidet, Unzufriedenheit mit diesem System breit.
Wie nutzen Populisten diese Unzufriedenheit?
Die meisten Menschen verstehen, dass es so nicht weitergehen kann. Aber diejenigen, die trotzdem keine Veränderungen wollen, suchen jemandem, der ihnen sagt: „Hey, wenn du mich, den starken Onkel wählst, werde ich alle Veränderungen rückgängig machen. Dann wird es keine Klimakrise und keine Transmenschen mehr geben. Dann werden keine Migranten mehr kommen, dann wird alles so, wie es früher war. Das ist es, was Populisten – meist wider besseres Wissen – versprechen.
Was ist der zweite Grund?
Viele Populisten und Faschisten sind international sehr gut vernetzt und nutzen dies aus, um Autoritarismus zu etablieren und Narrative zu setzen. Es ist kein Zufall, dass Populisten von Russland bis in die USA die Unisex-toilette zum nationalen Feind erkoren haben. Dabei hatte sich daran kaum jemand gestört. Niemand wäre von sich aus auf die Idee gekommen, nach den Genitalien der Person zu fragen, die nebenan die öffentliche Toilette besucht. Aber solche Narrative werden von konservativen Thinktanks mit Hilfe von Psychologen erarbeitet und über internationale Konferenzen und Social Media verbreitet. Es handelt sich um einen gezielten Angriff auf die freie Gesellschaft.
Der Tod des russischen Oppositionspolitikers Nawalny in einer russischen Strafkolonie hat wieder einmal das hässliche Gesicht von Autokratien gezeigt. Warum wählen Menschen weltweit trotzdem Autokraten?
Weil sie nicht Nawalny sein werden. Vielen Menschen sind scheinbare Sicherheit und Stabilität wichtiger als Freiheit. Meine Großmutter war am Boden zerstört, als die Sowjetunion zusammengebrochen ist. Sie sagte mir: „In der Sowjetunion ging es uns zwar schlecht, sogar sehr schlecht. Wir waren nicht frei, aber wir wussten immer, was der nächste Tag bringt. Darin hatten wir uns eingerichtet.“Eine Autokratie kann deshalb für Menschen, die das Gefühl haben, sie kämen in einer sich verändernden Welt nicht zurecht, eine psychische Entlastung sein.
Was kann gegen Politikverdrossenheit unternommen werden?
Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen! Denn Politikverdrossenheit ist vor allem eine Repräsentationskrise. Viele Menschen haben das Gefühl, mit ihren Anliegen von der Politik nicht gesehen zu werden und nicht Teil des politischen Betriebes zu sein. Denn wir werden von klein auf – unter anderem von der Werbung – zu Kunden erzogen. Und darum wählen wir auch wie Kunden. Wir wählen Parteien wie ein Waschmittel, sind mit dem Produkt aber oft nicht zufrieden. Und sollte die Regierung es wagen, Maßnahmen zu ergreifen, die unser Leben unbequemer machen könnten, dann wollen wir – wie unzufriedene Kunden – den Manager sprechen.
In Ihrem Buch „Die neue Schule der Demokratie“fragen Sie nach den Ursachen von Politikverdrossenheit. Wer ist schuld? Die Politik oder die Wählerschaft?
Politikverdrossenheit ist ein systemisches Problem. Diejenigen, die Politik machen, haben keinen Anreiz, Probleme zu lösen.
Diese steile These müssen Sie erklären.
Gerne. Nehmen wir das Bildungssystem als Beispiel. Wir alle wissen, dass viel zu wenig in Bildung investiert wird, obwohl wir wissen, dass Bildung ein sehr gutes Investitionskapital ist. Jeder Euro, den ich in Bildung investiere, zahlt sich für die Volkswirtschaft vielfach aus. Aber dieser Effekt tritt erst nach rund 20 Jahren ein – und eine Legislaturperiode dauert nur vier Jahre. Das gleiche Problem gibt es bei der Klimakrise. Unser politisches System ist also gar nicht darauf ausgelegt, Probleme zu lösen – und das ist ein Riesenproblem.
Sie sagen, den Streit in der Ampelkoalition finden Sie gar nicht so schlimm, schließlich könne die Koalition ideologisch eigentlich gar nicht funktionieren. Es gebe ein anderes Problem. Welches?
Der radikale Mangel an ehrlicher Kommunikation ist das größte Problem der Politik. Stichwort Corona-masken. Zu Beginn der Pandemie hat die Politik uns weismachen wollen, dass Masken kaum zur Eindämmung beitragen. Doch der eigentliche Grund war: Wir hatten einfach nicht genug Masken! Als wir dann genug Masken hatten, war es schwer, die Menschen zu überzeugen, Masken zu tragen, weil sie ja angeblich kaum helfen. Das war der Worst Case von politischer Kommunikation. Man muss Politik ehrlich erklären. Aber vor allem muss man eine echte Politik haben.
Wie meinen Sie das?
Sehr viele Politiker haben nur ihre Karriere im Blick und wollen deshalb gar nicht gestalten, sondern nur verwalten. Sie denken nicht mehr: „Ich möchte da hin, weil ich das für richtig halte.“Sie kommunizieren nicht mehr, weil sie vielleicht selber nicht mehr an ihre Politikinhalte glauben.
Warum werden Sie dann nicht wieder Berufspolitikerin und machen es besser?
In dem bestehenden System könnte auch ich nur sehr wenig erreichen. Klar, ich könnte ehrlich kommunizieren und Visionen formulieren, aber dann würde ich von der medialen Landschaft, die hauptsächlich Pferderennen bis zur nächsten Wahl veranstaltet, abgestraft werden.
Wieso sind Sie 2012 aus der aktiven Politik ausgestiegen?
Ich lebte damals von 660 Euro Bafög. Davon gingen 350 Euro für die Miete drauf. Vom Rest musste ich das Gesicht einer Partei sein, die in den Umfragen bei 13 Prozent lag. Nebenbei musste ich mein Psychologiediplom machen. Alles zusammen war nicht machbar.
Würde die AFD sich entzaubern, wenn sie in Regierungsverantwortung käme?
Nein! Käme die AFD in Regierungsverantwortung, würde sie Faschismus betreiben. Ich verstehe überhaupt nicht, warum in Deutschland immer noch von Entzauberung die Rede ist. Ich habe im Geschichtsunterricht gelernt, dass alle glaubten, die NSDAP würde sich entzaubern, sobald sie in Regierungsverantwortung käme. Tatsache war, dass sie den Faschismus umgesetzt hat, den sie angekündigt hat. Man muss den Leuten glauben, wenn sie erzählen, was sie vorhaben. Die AFD hat unter anderem angekündigt, dass sie deutsche Staatsbürger deportieren wird, dass sie den Rechtsstaat umbauen, die Pressefreiheit einschränken und alles aussetzen würde, was unsere Gesellschaft zu einer freien Gesellschaft macht.
Millionen Menschen sind in den vergangenen Wochen gegen Rechts auf die Straße gegangen. Mittlerweile haben die Demonstrationen deutlich weniger Zulauf. Ist es den Menschen auf Dauer zu anstrengend, sich zu engagieren? Oder glauben sie, es bringt nichts?
Demonstrationen sind unglaublich wichtig, aber sie sind niemals ein nachhaltiges Mittel der Politik. Sie sind eine punktuelle Willenserklärung der Bevölkerung. Jetzt liegt der Ball bei der Politik. Die Politik muss ein Verbotsverfahren gegen die AFD einleiten, um die Demokratie zu schützen.
Auf diesen Demonstrationen wird auch der Holocaust in nicht gerade kindgerechter Weise thematisiert. Soll man Kinder trotzdem zu den Demos mitnehmen?
Ich war sechs Jahre alt, als ich vom Holocaust hörte. Meine Tochter war fünf. Wir haben nicht das Privileg, unsere Kinder vor grausamen Realitäten abzuschirmen. In meinem Fall geht das schon deshalb nicht, weil es für mich sicherheitsrelevant ist. Meine Tochter fragte mich, warum immer Polizisten vor Ort sind, wenn sie ihre jüdische Jugendgruppe besucht. Ich musste meiner Tochter dann – möglichst kindgerecht – erklären, dass es Leute gibt, die uns töten wollen, weil wir Juden sind. Natürlich sollen Kinder nicht überfordert werden, aber sie müssen ernst genommen werden. Kinder haben ein Recht auf politische Partizipation.
Müssen Kinder deshalb mit zu Demonstrationen gehen?
Ich würde meine Tochter niemals mitnehmen, wenn sie sagt: „Ich habe keine Lust oder finde das Thema nicht wichtig.“Ich habe ihr gesagt: „Ich gehe gegen Nazis demonstrieren“und sie hat gesagt: „Ich möchte mitkommen. Das ist total wichtig.“Dann hat sie ein Schild gemalt. Darauf haben wir geschrieben: „Wir haben die Nazis schon mal überlebt.“Daneben hat sie zwei Davidsterne und einen Blitz für das Böse gemalt.
Zwingt man seinen Kindern seine politischen Ansichten auf, wenn man sie mit zu Demos nimmt?
Willkommen im Elternsein! Auch wenn ich mein Kind nicht mit zu Demos nehme, zwinge ich ihm doch die ganze Zeit meine moralischen Vorstellungen auf. So funktionieren Erziehung und Sozialisation nun mal. Ich kann mein Kind doch nicht in einen dunklen Raum sperren, bis es 18 Jahre alt ist, und dann hoffen, dass es sich in der Welt seine eigene Meinung bildet.
Seit in Israel Krieg herrscht, hat die Zahl der antisemitischen Übergriffe in Deutschland und weltweit stark zugenommen. Leiden Sie darunter persönlich?
Natürlich! Ich habe mich zum Beispiel sehr, sehr unwohl gefühlt, als ich mit meiner Tochter mit dem Plakat mit Davidsternen auf der Demo gegen Fremdenfeindlichkeit war. Das war gruselig, zumal wir in der Nähe einer Gruppe standen, die mit Palästinaflaggen unterwegs war. Ich habe überhaupt nichts gegen den Kampf für die palästinensische Sache, aber man weiß nie, in welche Gefahr man sich begibt, wenn man einen Davidstern trägt. Die Bedrohungslage hat eindeutig zugenommen. Seit dem 7. Oktober rufen Leute in meinem Büro an und schreien meine Mitarbeiter an und schicken mir Drohmails. Schon während der Coronakrise wurden wir Juden zu Sündenböcken gemacht. Das passiert auch bei jedem Aufflammen des Nahost-konflikts.
Ich musste meiner Tochter erklären, dass es Leute gibt, die uns töten wollen, weil wir Juden sind.