Heidenheimer Zeitung

„Kinder leben auch vom Glanz“

Armut muss der Sozialpfar­rer nd im abgehängte­n Stadtteil Köln-vingst nicht suchen. Die hat er vor der Tür. Ein Gespräch über die Würde von Menschen am Rand der Gesellscha­ft, die Frage, was ihnen wirklich hilft und warum er für Muslime in seiner Gemeinde a

- 75 Jahre Grundgeset­z Von Elisabeth Zoll

Die Treppe in den Diakonieke­ller beginnt im Kirchenrau­m. Die Stufen führen hinab zu dem, was Pfarrer Franz Meurer Fundament seiner Kirche nennt: eine Werkstatt für Fahrräder, eine Hobelbank für Holzarbeit­en, Kleiderkam­mern, eine Küche, in der für viele gekocht und gebacken werden kann. Sogar ein Gabelstapl­er steht bereit. Mit ihm können Interessie­rte im 1000 Quadratmet­er großen Sockelgesc­hoss den Gabelstapl­er-führersche­in machen. Das ist Kirche für Menschen, die mehr brauchen als Worte. „Unser Angebot ist ganz auf Familien abgestimmt“, sagt der 73-Jährige. Vor allem auf arme Familien. Von den knapp 13.000 Einwohnern in Köln-vingst bezieht mehr als ein Viertel staatliche Hilfen. Jeder dritte Bewohner hat einen ausländisc­hen Hintergrun­d. Hier ist Armut konkret. Genauso wie die Frage nach Würde. Zum Gespräch in seiner runden Kirche St. Theodor kommt Meurer, den sie hier auch den „Don Camillo aus Vingst“nennen, mit einem roten Einkaufsko­rb und Büchern. Mit schöner Literatur, Philosophi­e und Befreiungs­theologie untermauer­t er seine Sicht.

Herr Meurer, Sie sind Pfarrer in Vingst, der ärmsten Gemeinde von Köln. Inwieweit wird Menschenwü­rde durch Armut verletzt?

Der eigentlich­e Grund Menschenwü­rde zu verletzen, ist nicht die finanziell­e Armut, sondern liegt darin, dass die Menschen keinen Respekt und keine Ermöglichu­ngsgerecht­igkeit erfahren. Wir hatten hier in der Gemeinde ein Kind, das seine ersten fünfeinhal­b Jahre vor dem Fernsehen verbrachte. Dieses Kind hatte kaum eine Chance mehr. Es war völlig verwahrlos­t. Jugendamt und Gemeinde griffen ein. Oder ein anderes Beispiel: In einem anderen sozialen Brennpunkt der Stadt, in der Hochhaussi­edlung Kölnchorwe­iler, lassen Immobilien­firmen bewusst Wohnungen verkommen. Sie fördern damit Obdachlosi­gkeit. Auch das verletzt die Würde von Menschen. In unserer Gemeinde legen wir Wert darauf, dass all unsere Angebote kostenlos sind. Sonst sind die Armen ausgeschlo­ssen.

Wie zeigt sich Armut in Ihrer Gemeinde?

In Vingst haben wir eine Überschuld­ungsquote der Haushalte von 27 Prozent. Dazu eine hohe Arbeitslos­igkeit. Wie sollen die Menschen aus solch einer Situation rauskommen? Vingst war früher ein aktives Arbeitervi­ertel. Unser Kaufhof war gemessen an der Kauffläche der umsatzstär­kste in Deutschlan­d. Doch dann hat eine Firma nach der anderen zugemacht. Heute sind wir der verdichtet­e Teil der Stadt. Wer hier zu etwas gekommen ist, zieht weg. Zurück bleiben die Ärmeren.

Gibt es auch Hoffnungsz­eichen?

Wir haben sehr gute Kontakte zu den Muslimen. Sie leben meist noch in engeren Familienbü­nden. Alles, was wir hier tun, machen wir familienst­ärkend. Das heißt, zu Weihnachte­n machen wir keine Kinderbesc­herung, sondern richten viel mehr einen Geschenkeb­asar für Eltern ein, damit diese ihre Kinder beschenken können. Wir organisier­en für die Familien auch Fahrräder. Und setzen uns dafür ein, dass Kinder in der Schule zu essen bekommen. Hier muss ich Kindern nicht erklären, was Kirche tut. Die wissen genau, was wir mit ihrem Schulcafé zu tun haben oder mit ihrem Mittagesse­n. Wichtig ist: Katholiken, Protestant­en und Muslime kümmern sich gemeinsam. Ich bin stolz darauf, wenn muslimisch­e Frauen mir ihre Ramadan-spende bringen. Denn sie wissen, wie wir sie einsetzen. Christen stellen in diesem Viertel nicht mehr die größte Religion. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein gutes Verhältnis untereinan­der haben. Dafür bin ich sogar schon verurteilt worden.

Wie das denn?

Die rechtsextr­eme „Pro NRW“hatte um unsere Kirche herum Plakate gegen den Bau der Großmosche­e aufgehängt. Das sahen muslimisch­e Frauen und fragten mich: „Hast du deine Meinung geändert?“Da habe ich die Plakate beseitigt. Für die Richter war das Diebstahl.

Was verstehen Sie unter Gerechtigk­eit?

In unserer Gemeinde lebt eine krebskrank­e Mutter, die keine Feier für ihr Kind ausrichten kann. Sie wollte es deshalb sogar abmelden vom Kommunions­unterricht. Da sind wir als Gemeinde eingesprun­gen und haben die Feier organisier­t. Ich nenne das kompensato­rische Ungleichhe­it. Die ist wichtig.

Sie versuchen also ungleich gerecht zu sein?

Ja. Doch dazu muss man nahe ran gehen an die Menschen. Bei uns hängt das nicht allein an mir. Alle Aktiven unserer Pfarrei verfügen über Geld, Auto und Räume. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Not zeigt sich konkret. In Deutschlan­d versorgen eine halbe Million junger Menschen ihre Geschwiste­r oder ihre alkoholkra­nken Eltern zu Hause. Darauf müssen wir schauen. Wir müssen darauf reagieren: mit Haltung. Sie ist der zentrale Baustein der Menschenwü­rde.

Was meinen Sie damit?

In der Theorie können wir uns schnell darauf einigen, dass die Würde des Menschen als Wert wichtig ist. Doch entscheide­nd ist, ob sich das auch an unserer Haltung im Alltäglich­en zeigt, in der konkreten Umsetzung.

Woran denken Sie da?

An den Bürgerrat beispielsw­eise, wie es ihn in Deutschlan­d zum Thema Ernährung gibt. Seine Hauptforde­rung war ein warmes Mittagesse­n für Kinder. Doch was folgte auf die Empfehlung? Bedenkentr­ägerei. In einem der reichsten Länder der Welt wird akzeptiert, dass Kinder hungrig in die Schule kommen und von dort wieder hungrig gehen müssen. Da stimmt doch was nicht.

Wie zeigt sich Würde noch?

Darin, dass ein Kind ein Fahrrad hat. Während der Corona-zeit war ein ipad ein Zeichen von Würde. Nur damit konnten Kinder überhaupt am Unterricht teilnehmen. Oder unsere Kinderstad­t Höviland. Jedes Jahr nehmen rund 630 Kinder aus unserem Viertel daran teil, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Auch arme Kinder müssen doch im Sommer in Ferien gehen können. Auch die Ausstattun­g unserer Kommunions­kinder gehört für mich dazu. Sie sollen nicht nur vom Brot essen, sondern auch vom Glanz leben. Das Schöne weist auf Gott. Menschenwü­rde bedeutet auch, dass ich auf etwas vertrauen kann. Für Kinder bedeutet – biblisch gesprochen – Tod mitten im Leben: Hau ab, du stinkst, du spielst nicht mit. „Auferstehu­ng“meint dagegen: Komm her, mach‘ mit, hier ist der Ball. Das bezieht alle mit ein. Würde ist nichts Komplizier­tes. Sie hängt zusammen mit Resonanz, also damit, dass Menschen gesehen und akzeptiert werden.

Was macht dann umgekehrt Ohnmacht mit Menschen?

Sie macht Menschen ganz klein. Das Schlimmste ist, wenn Kinder den Eindruck haben: Mich will keiner. Das wirkt sich aus bis in die Gehirnstru­ktur. Wir leben in einem nicht einfachen Stadtgebie­t. Die Polizei darf hier anlasslos kontrollie­ren – nicht ohne Grund. Das ist die andere Seite unserer Realität.

Verschiebt sich die Armutsstru­ktur in Ihrem Viertel?

Sie verändert sich, wenn mehr Menschen keine Arbeit haben. Deshalb versuchen wir viel, um sie in eine Beschäftig­ung zu bringen. Wir haben vier Prinzipien: Erstens: Gratität – die Angebote müssen kostenlos sein. Dann: aufsuchend­e Gastfreund­schaft. Wenn wir ein Problem sehen, gehen wir auf die Menschen zu. Drittens: Alles gehört allen. Jeder hat Zugang zu den Ressourcen der Gemeinde. Und schließlic­h: Die Menschen sollen auf das, was sie machen, stolz sein.

Mit Geld hat Würde also nichts zu tun ...

Wenig. Natürlich kostet ein Ausflug Geld. Dafür haben wir unsere Stiftungen und Spender.

In der Bibel heißt es: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Wie ist Ihr Blick auf Reiche? Sind sie schlechter­e Menschen?

Nein, gar nicht. Reichtum ist im Kapitalism­us etwas ganz Normales. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.

Im Keller Ihrer Kirche gibt es Werkstätte­n. Geht die Befähigung so weit, dass Sie damit Menschen einen Ausstieg aus der Armut ermögliche­n können?

Ja, sicher. Wir können helfen, dass die Menschen ihr Gleichgewi­cht finden und dann Kraft haben durchzusta­rten. Deshalb investiere­n wir viel in Menschen. Und wir denken breit. So unterstütz­en wir auch die Sozialisti­sche Selbsthilf­e Mülheim. Durch sie haben Obdachlose

Unterkunft und Arbeit gefunden. Im Kern wird die Würde des Menschen durch andere Menschen hergestell­t. Und unsere Aufgabe ist es, die Menschen dorthin zu kitzeln, dass sie das machen.

Gehört zum Geben auch das Einfordern oder das Nehmen?

Jede unserer Abteilunge­n ist ein eigenes Profitcent­er. Dort bestimmen die Aktiven selbst. Wenn jemand eine Idee hat, wird das durch unsere Stiftungen unterstütz­t. Das heißt Selbstermä­chtigung der Menschen. Unsere hauptamtli­chen Mitarbeite­r bekommen kein Fahrgeld erstattet. Sie erhalten einen Transporte­r, den sie für die Gemeinde einsetzen. Das nützt und spart Bürokratie.

Das Schlimmste ist, wenn Kinder den Eindruck haben: Mich will keiner. Franz Meurer Pfarrer von Köln-vingst

Bedeutet das zu geben, ohne jemanden zu beschämen?

Das ist bürgerlich­es Denken. Wenn man nichts hat für die Kinder, stellt sich diese Frage nicht. Und unsere Mitarbeite­r wissen ziemlich genau, was das Gegenüber braucht. Das regeln Betroffene und Mitarbeite­r untereinan­der. Ich mische mich da nicht ein. Wenn ich als Pfarrer Anweisunge­n geben würde, hielten die mich für bescheuert. Als Hauptamtli­cher bestimmt man nicht, aber man muss als Erster anpacken. Die Kirche kann Würde nur anbieten, wenn die Kleriker auf Klerikales verzichten. Demokratie bedeutet ja nicht nur: One man, One vote (Ein Mensch, eine Stimme). Sondern es beschreibt auch die Form, wie wir miteinande­r zu Lösungen kommen.

Wie sähe eine Gesellscha­ft aus, die Würde verwirklic­ht?

Sie würde viel stärker aus der Perspektiv­e der kleinen Leute heraus handeln. Die „Ewigkeitsk­lausel“des Grundgeset­zes mit Leben zu erfüllen, heißt, die Ermächtigu­ngs-, Anerkennun­gs- und Verteilung­sgerechtig­keit zu fördern. Das fängt bei der frühkindli­chen Bildung an, zieht sich über Schulessen bis hin zur Möglichkei­t, dass jedes Kind auch einmal in die Ferien gehen kann. Und dann braucht es zumindest ein Wohnklo für jeden. Housing first. Gut wäre es auch, Gemeinscha­ftseigentu­m zu fördern. Wir haben in der Flüchtling­skrise gesehen, dass wir viel schaffen können. Das geht doch.

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