„Kinder leben auch vom Glanz“
Armut muss der Sozialpfarrer nd im abgehängten Stadtteil Köln-vingst nicht suchen. Die hat er vor der Tür. Ein Gespräch über die Würde von Menschen am Rand der Gesellschaft, die Frage, was ihnen wirklich hilft und warum er für Muslime in seiner Gemeinde a
Die Treppe in den Diakoniekeller beginnt im Kirchenraum. Die Stufen führen hinab zu dem, was Pfarrer Franz Meurer Fundament seiner Kirche nennt: eine Werkstatt für Fahrräder, eine Hobelbank für Holzarbeiten, Kleiderkammern, eine Küche, in der für viele gekocht und gebacken werden kann. Sogar ein Gabelstapler steht bereit. Mit ihm können Interessierte im 1000 Quadratmeter großen Sockelgeschoss den Gabelstapler-führerschein machen. Das ist Kirche für Menschen, die mehr brauchen als Worte. „Unser Angebot ist ganz auf Familien abgestimmt“, sagt der 73-Jährige. Vor allem auf arme Familien. Von den knapp 13.000 Einwohnern in Köln-vingst bezieht mehr als ein Viertel staatliche Hilfen. Jeder dritte Bewohner hat einen ausländischen Hintergrund. Hier ist Armut konkret. Genauso wie die Frage nach Würde. Zum Gespräch in seiner runden Kirche St. Theodor kommt Meurer, den sie hier auch den „Don Camillo aus Vingst“nennen, mit einem roten Einkaufskorb und Büchern. Mit schöner Literatur, Philosophie und Befreiungstheologie untermauert er seine Sicht.
Herr Meurer, Sie sind Pfarrer in Vingst, der ärmsten Gemeinde von Köln. Inwieweit wird Menschenwürde durch Armut verletzt?
Der eigentliche Grund Menschenwürde zu verletzen, ist nicht die finanzielle Armut, sondern liegt darin, dass die Menschen keinen Respekt und keine Ermöglichungsgerechtigkeit erfahren. Wir hatten hier in der Gemeinde ein Kind, das seine ersten fünfeinhalb Jahre vor dem Fernsehen verbrachte. Dieses Kind hatte kaum eine Chance mehr. Es war völlig verwahrlost. Jugendamt und Gemeinde griffen ein. Oder ein anderes Beispiel: In einem anderen sozialen Brennpunkt der Stadt, in der Hochhaussiedlung Kölnchorweiler, lassen Immobilienfirmen bewusst Wohnungen verkommen. Sie fördern damit Obdachlosigkeit. Auch das verletzt die Würde von Menschen. In unserer Gemeinde legen wir Wert darauf, dass all unsere Angebote kostenlos sind. Sonst sind die Armen ausgeschlossen.
Wie zeigt sich Armut in Ihrer Gemeinde?
In Vingst haben wir eine Überschuldungsquote der Haushalte von 27 Prozent. Dazu eine hohe Arbeitslosigkeit. Wie sollen die Menschen aus solch einer Situation rauskommen? Vingst war früher ein aktives Arbeiterviertel. Unser Kaufhof war gemessen an der Kauffläche der umsatzstärkste in Deutschland. Doch dann hat eine Firma nach der anderen zugemacht. Heute sind wir der verdichtete Teil der Stadt. Wer hier zu etwas gekommen ist, zieht weg. Zurück bleiben die Ärmeren.
Gibt es auch Hoffnungszeichen?
Wir haben sehr gute Kontakte zu den Muslimen. Sie leben meist noch in engeren Familienbünden. Alles, was wir hier tun, machen wir familienstärkend. Das heißt, zu Weihnachten machen wir keine Kinderbescherung, sondern richten viel mehr einen Geschenkebasar für Eltern ein, damit diese ihre Kinder beschenken können. Wir organisieren für die Familien auch Fahrräder. Und setzen uns dafür ein, dass Kinder in der Schule zu essen bekommen. Hier muss ich Kindern nicht erklären, was Kirche tut. Die wissen genau, was wir mit ihrem Schulcafé zu tun haben oder mit ihrem Mittagessen. Wichtig ist: Katholiken, Protestanten und Muslime kümmern sich gemeinsam. Ich bin stolz darauf, wenn muslimische Frauen mir ihre Ramadan-spende bringen. Denn sie wissen, wie wir sie einsetzen. Christen stellen in diesem Viertel nicht mehr die größte Religion. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein gutes Verhältnis untereinander haben. Dafür bin ich sogar schon verurteilt worden.
Wie das denn?
Die rechtsextreme „Pro NRW“hatte um unsere Kirche herum Plakate gegen den Bau der Großmoschee aufgehängt. Das sahen muslimische Frauen und fragten mich: „Hast du deine Meinung geändert?“Da habe ich die Plakate beseitigt. Für die Richter war das Diebstahl.
Was verstehen Sie unter Gerechtigkeit?
In unserer Gemeinde lebt eine krebskranke Mutter, die keine Feier für ihr Kind ausrichten kann. Sie wollte es deshalb sogar abmelden vom Kommunionsunterricht. Da sind wir als Gemeinde eingesprungen und haben die Feier organisiert. Ich nenne das kompensatorische Ungleichheit. Die ist wichtig.
Sie versuchen also ungleich gerecht zu sein?
Ja. Doch dazu muss man nahe ran gehen an die Menschen. Bei uns hängt das nicht allein an mir. Alle Aktiven unserer Pfarrei verfügen über Geld, Auto und Räume. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Not zeigt sich konkret. In Deutschland versorgen eine halbe Million junger Menschen ihre Geschwister oder ihre alkoholkranken Eltern zu Hause. Darauf müssen wir schauen. Wir müssen darauf reagieren: mit Haltung. Sie ist der zentrale Baustein der Menschenwürde.
Was meinen Sie damit?
In der Theorie können wir uns schnell darauf einigen, dass die Würde des Menschen als Wert wichtig ist. Doch entscheidend ist, ob sich das auch an unserer Haltung im Alltäglichen zeigt, in der konkreten Umsetzung.
Woran denken Sie da?
An den Bürgerrat beispielsweise, wie es ihn in Deutschland zum Thema Ernährung gibt. Seine Hauptforderung war ein warmes Mittagessen für Kinder. Doch was folgte auf die Empfehlung? Bedenkenträgerei. In einem der reichsten Länder der Welt wird akzeptiert, dass Kinder hungrig in die Schule kommen und von dort wieder hungrig gehen müssen. Da stimmt doch was nicht.
Wie zeigt sich Würde noch?
Darin, dass ein Kind ein Fahrrad hat. Während der Corona-zeit war ein ipad ein Zeichen von Würde. Nur damit konnten Kinder überhaupt am Unterricht teilnehmen. Oder unsere Kinderstadt Höviland. Jedes Jahr nehmen rund 630 Kinder aus unserem Viertel daran teil, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Auch arme Kinder müssen doch im Sommer in Ferien gehen können. Auch die Ausstattung unserer Kommunionskinder gehört für mich dazu. Sie sollen nicht nur vom Brot essen, sondern auch vom Glanz leben. Das Schöne weist auf Gott. Menschenwürde bedeutet auch, dass ich auf etwas vertrauen kann. Für Kinder bedeutet – biblisch gesprochen – Tod mitten im Leben: Hau ab, du stinkst, du spielst nicht mit. „Auferstehung“meint dagegen: Komm her, mach‘ mit, hier ist der Ball. Das bezieht alle mit ein. Würde ist nichts Kompliziertes. Sie hängt zusammen mit Resonanz, also damit, dass Menschen gesehen und akzeptiert werden.
Was macht dann umgekehrt Ohnmacht mit Menschen?
Sie macht Menschen ganz klein. Das Schlimmste ist, wenn Kinder den Eindruck haben: Mich will keiner. Das wirkt sich aus bis in die Gehirnstruktur. Wir leben in einem nicht einfachen Stadtgebiet. Die Polizei darf hier anlasslos kontrollieren – nicht ohne Grund. Das ist die andere Seite unserer Realität.
Verschiebt sich die Armutsstruktur in Ihrem Viertel?
Sie verändert sich, wenn mehr Menschen keine Arbeit haben. Deshalb versuchen wir viel, um sie in eine Beschäftigung zu bringen. Wir haben vier Prinzipien: Erstens: Gratität – die Angebote müssen kostenlos sein. Dann: aufsuchende Gastfreundschaft. Wenn wir ein Problem sehen, gehen wir auf die Menschen zu. Drittens: Alles gehört allen. Jeder hat Zugang zu den Ressourcen der Gemeinde. Und schließlich: Die Menschen sollen auf das, was sie machen, stolz sein.
Mit Geld hat Würde also nichts zu tun ...
Wenig. Natürlich kostet ein Ausflug Geld. Dafür haben wir unsere Stiftungen und Spender.
In der Bibel heißt es: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Wie ist Ihr Blick auf Reiche? Sind sie schlechtere Menschen?
Nein, gar nicht. Reichtum ist im Kapitalismus etwas ganz Normales. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.
Im Keller Ihrer Kirche gibt es Werkstätten. Geht die Befähigung so weit, dass Sie damit Menschen einen Ausstieg aus der Armut ermöglichen können?
Ja, sicher. Wir können helfen, dass die Menschen ihr Gleichgewicht finden und dann Kraft haben durchzustarten. Deshalb investieren wir viel in Menschen. Und wir denken breit. So unterstützen wir auch die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim. Durch sie haben Obdachlose
Unterkunft und Arbeit gefunden. Im Kern wird die Würde des Menschen durch andere Menschen hergestellt. Und unsere Aufgabe ist es, die Menschen dorthin zu kitzeln, dass sie das machen.
Gehört zum Geben auch das Einfordern oder das Nehmen?
Jede unserer Abteilungen ist ein eigenes Profitcenter. Dort bestimmen die Aktiven selbst. Wenn jemand eine Idee hat, wird das durch unsere Stiftungen unterstützt. Das heißt Selbstermächtigung der Menschen. Unsere hauptamtlichen Mitarbeiter bekommen kein Fahrgeld erstattet. Sie erhalten einen Transporter, den sie für die Gemeinde einsetzen. Das nützt und spart Bürokratie.
Das Schlimmste ist, wenn Kinder den Eindruck haben: Mich will keiner. Franz Meurer Pfarrer von Köln-vingst
Bedeutet das zu geben, ohne jemanden zu beschämen?
Das ist bürgerliches Denken. Wenn man nichts hat für die Kinder, stellt sich diese Frage nicht. Und unsere Mitarbeiter wissen ziemlich genau, was das Gegenüber braucht. Das regeln Betroffene und Mitarbeiter untereinander. Ich mische mich da nicht ein. Wenn ich als Pfarrer Anweisungen geben würde, hielten die mich für bescheuert. Als Hauptamtlicher bestimmt man nicht, aber man muss als Erster anpacken. Die Kirche kann Würde nur anbieten, wenn die Kleriker auf Klerikales verzichten. Demokratie bedeutet ja nicht nur: One man, One vote (Ein Mensch, eine Stimme). Sondern es beschreibt auch die Form, wie wir miteinander zu Lösungen kommen.
Wie sähe eine Gesellschaft aus, die Würde verwirklicht?
Sie würde viel stärker aus der Perspektive der kleinen Leute heraus handeln. Die „Ewigkeitsklausel“des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen, heißt, die Ermächtigungs-, Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit zu fördern. Das fängt bei der frühkindlichen Bildung an, zieht sich über Schulessen bis hin zur Möglichkeit, dass jedes Kind auch einmal in die Ferien gehen kann. Und dann braucht es zumindest ein Wohnklo für jeden. Housing first. Gut wäre es auch, Gemeinschaftseigentum zu fördern. Wir haben in der Flüchtlingskrise gesehen, dass wir viel schaffen können. Das geht doch.