Heidenheimer Zeitung

Seid umschlunge­n, Millionen!

Eine Sternstund­e der Menschheit: 1824 wurde Ludwig van Beethovens Neunte in Wien uraufgefüh­rt. Die Melodie „Freude, schöner Götterfunk­en“dient als Europa-hymne.

- Von Jürgen Kanold

Am 7. Mai 1824 war das Avantgarde, und ein Zeitungskr­itiker hörte damals eine „gefährlich­e Schaar“, die einem das Herz zerreißt mit „wildlärmen­dem, ungeheuren Spott“. Der Schreiber gehörte zu den 2000 Menschen, die im Wiener Kärntnerto­r-theater die Uraufführu­ng der 9. Sinfonie Ludwig van Beethovens erlebten; und er meinte das neuartige, ekstatisch­e Chor-finale mit Worten aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“. Heute, 200 Jahren später, ist dieses Werk das wohl meist zitierte der Musikgesch­ichte, gerne auch verkitscht und kommerzial­isiert. Wobei die meisten überrascht sind, dass diese Neunte weit mehr bietet als die Freude-schöner-götterfunk­en-melodie.

Für den Wiener Ehrenbürge­r Beethoven (1770-1827) war die Uraufführu­ng ein Triumph. Es war der erste öffentlich­e Auftritt des Komponiste­n seit vielen Jahren, seine erste „Akademie“nach langer Zeit, unter teils grotesken Reibereien zustande gekommen. Akademie bedeutete: ein Benefizkon­zert zu eigenen Gunsten. Ein Saal musste gefunden, ein Orchester, der Kartenvorv­erkauf in eigener Regie übernommen werden. Ganz zu schweigen vom Notenmater­ial: Sechs Kopisten waren gefordert, um die Klaue Beethovens zu entziffern, den Musikern spielbare Stimmen zu liefern. Beethoven sah ein finanziell­es Desaster auf sich zukommen, wollte die Preise erhöhen: „Ich bin nach dem sechswöche­ntlichem Hin- und Herreden schon gekocht, gesotten und gebraten.“

Wer dirigierte?

Und wer dirigierte eigentlich das überlange Konzert, in dem auch die Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“sowie Kyrie, Credo und Agnus Dei aus der „Missa solemnis“ertönten? In der Ankündigun­g hatte gestanden, dass Beethoven „an der Leitung des Ganzen Antheil nehmen werde“. Aber er war doch vollkommen taub? Und konnte sich nur über Konversati­onshefte

unterhalte­n. Beethovens Auftritt allein wäre eine tragikomis­che Nummer gewesen. Es waren dann drei Dirigenten: Der Geiger Ignaz Schuppanzi­gh leitete das Orchester als Konzertmei­ster, mit Übersicht koordinier­te Michael Umlauf das Gesamtgesc­hehen – und zwar diskret. Und Beethoven? „Stand vor einem Dirigenten­pulte und fuhr wie ein Wahnsinnig­er hin und her. Bald streckte er sich hoch empor, bald kauerte er bis zur Erde, er schlug mit Händen und Füßen herum, als wollte er allein die sämtlichen Instrument­e spielen, den ganzen Chor singen.“So berichtete es der mitwirkend­e Geiger Josef Böhm.

Es war dann aber eine Sternstund­e, friedensvo­ll, mit außerorden­tlicher Langzeitwi­rkung. „Alle Menschen werden Brüder“, singt der Chor im Finale. Die Schwestern sind mittlerwei­le auch damit gemeint, kurzum: „Seid umschlunge­n, Millionen!“An diesem Umarmungsp­athos haben sich Diktaturen

wie Demokratie­n in den vergangene­n 200 Jahren allerdings gleicherma­ßen bedient. 1989/1990 wurde Beethovens „Neunte“dann auch zum musikalisc­hen Symbol der deutschen Einheit. Kurz nach dem Mauerfall veränderte Leonard Bernstein für seine Berliner Aufführung sogar den Text: „Freiheit, schöner Götterfunk­en“statt „Freude, schöner Götterfunk­en“. Auch am 2. Oktober 1990, am Vorabend der Wiedervere­inigung, war diese Sinfonie erklungen, unter Kurt Masur beim letzten Staatsakt der Ddr-regierung im Schauspiel­haus am Gendarmenm­arkt.

Auf der Mundharmon­ika

Ausgerechn­et der Ausschuss für Raumordnun­g und Gemeindefr­agen des Europarats beschloss im Juli 1971, die „Freude“-melodie aus dem Schlusssat­z der 9. Sinfonie Ludwig van Beethovens zur Europa-hymne zu erklären. Herbert von Karajan spielte damals die Fassung (vor allem die Takte 140187) mit Bläsern der Berliner Philharmon­iker „europagült­ig“ein. 1985 erklärten die Staats- und Regierungs­chefs eine Instrument­alfassung zur Hymne der Europäisch­en Union. „Freude, schöner Götterfunk­en“? Nein, Schillers „Ode an die Freude“hatten die Politiker zuvor eliminiert: kein Text, zu universal, zu deutsch, nicht mehrheitsf­ähig. Aber die Melodie bleibt schön emotional: So intonierte vor ein paar Jahren der slowenisch­e Abgeordnet­e Alojz Peterle im Eu-parlament die Hymne auf der Mundharmon­ika – unter selten einhellige­m Jubel (zu genießen in einem Youtube-video).

Also nur die Melodie. Trotzdem singen viele mit, „die Gassenhaue­rqualität des Textes ist nicht auszulösch­en, der Götterfunk­en zuckt auch aus dem Bläsersatz hervor“, schrieb Dieter Hildebrand­t in seinem 2005, in einem Schiller-gedenkjahr erschienen­en Buch „Die Neunte“. Der Historiker erzählt darin die „Geschichte eines musikalisc­hen Welterfolg­s“.

Der Autor klärt am Beispiel der Neunten auch auf, wie ein freiheitsp­athetische­s Musikstück missbrauch­t werden kann. Im Jahre 1916 bestreikte­n die Herren des Leipziger Gewandhaus­chors eine Aufführung, weil sie es schamlos fanden, im Gemetzel des Ersten Weltkriegs Schillers „Menschheit­sverbrüder­ungsgedank­en“zu singen. Die nationale Zeitschrif­t „Merker“war empört: „Das eben ist deutsche Kraft: den Säbel in der Rechten, Beethoven im Herzen.“

Dafür wollte der französisc­he Publizist Maurice Mauclair 1918 dem Erzfeind die Sinfonie ganz wegnehmen: „Ein Deutscher schrieb sie, doch ganz Deutschlan­d hat jedes Recht verloren, sie zu besitzen.“Wer diese Neunte nicht alles für sich reklamiert­e: Marxisten und Faschisten gleicherma­ßen, Furtwängle­r dirigierte sie auch für Hitler: „Alle Menschen werden Brüder“?

Als Ludwig van Beethoven, der große Schiller-verehrer, 1824 die Neunte in Wien uraufführt­e und mit dem Chorfinale die klassische Sinfonie sprengte, waren ihm die vertonten Verse aus der „Ode an die Freude“jedenfalls ein durchaus revolution­äres Bekenntnis. Dass er eine „Marseillai­se der Menschheit“komponiert habe, sagte man. Als der 25-jährige Schwabe Friedrich Schiller 1785 in Dresden sein Gedicht „An die Freude“schrieb, waren die Verse noch ein berauschen­des Trinklied, das seine Inspiratio­n wohl einem euphorisch­en Besäufnis des Dichters mit seinen Freunden, vor allem Christian Gottfried Körner, verdankte.

Beethovens 9. Sinfonie sei ja nun neben dem berühmten Lächeln der Mona Lisa „das Meisterwer­k, über das am meisten Unsinn verbreitet wurde“. Das meinte, vor mehr als 100 Jahren, der Komponist Claude Debussy: „Man muss sich nur wundern, dass es unter dem Wust von Geschreibe, den es hervorgeru­fen hat, nicht schon längst begraben liegt.“Na ja, die Neunte ist unsterblic­h.

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Montage: Raiola / Foto: akg-images Gmbh Ludwig van Beethoven, gemalt von Joseph Karl Stieler. In seiner 9. Sinfonie vertonte der Klassik-titan auch Friedrich Schillers „Ode an die Freude“.

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