Heuberger Bote

Ohne Scham, ohne Rücksicht

Gaffer mit Smartphone­s filmen vermehrt Verletzte und sogar Tote – Bundesrat berät Strafrecht­sverschärf­ung

- Von Ludger Möllers

- Ein Großbrand in der Ulmer Innenstadt: In einem Hotel ist mitten in der Nacht ein Feuer ausgebroch­en. Dutzende Feuerwehrl­eute und Rotkreuz-Helfer bekämpfen die Flammen, nehmen sich der Hotelgäste an. Mittendrin: Neugierige, sogenannte Gaffer, mit ihren Smartphone­s, die über Schläuche stolpern, dabei jeden Handgriff der Einsatzkrä­fte fotografie­ren, filmen und direkt vom Einsatzort bei Facebook und Youtube posten. Noch während die Retter aktiv sind, kommen die ersten Kommentare zurück: Selbst ernannte Experten kritisiere­n, die Feuerwehr gehe angeblich falsch vor.

Kein Einzelfall. „Egal, ob bei einem Autobahnun­fall, bei einem Brandeinsa­tz: Unbeteilig­te zücken ihre Handys und filmen Betroffene wie auch Einsatzkrä­fte“, berichtet Reiner Schlumberg­er, stellvertr­etender Kommandant der Feuerwehr Ulm, „dabei stören sie nicht nur den Einsatzabl­auf, sondern sie bringen sich selbst in Gefahr, verletzen Persönlich­keitsrecht­e der Opfer wie der Retter.“Eine Initiative des Landes Niedersach­sen im Bundesrat, durch ein schärferes Gesetz Gaffern beizukomme­n, begrüßen Praktiker wie Schlumberg­er: „Stellt sich nur die Frage, wer Gaffer kontrollie­ren soll. Einsatzkrä­fte haben vor Ort genug mit dem Einsatz zu tun.“

Neues Denken, neue Dimension

In den Polizeiber­ichten der vergangene­n Wochen häufen sich Beispiele wie jenes aus Ulm. Vereinzelt fordern Gaffer auch Polizisten auf, zur Seite zu treten: „Sie stehen im Bild“, hieß es neulich in Hagen. „Es gibt ein neues Denken. Die Menschen schauen nicht nur für ihre eigene Neugier, sondern sie nehmen Fotos und Videos auf, um zum Geschichte­nerzähler zu werden – auf Kosten der Opfer“, sagt Oliver Malchow, Bundesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP). Er betont, dass Beamte immer wieder gegen Neugierige vorgehen müssten. Wichtigste Aufgabe der Polizisten sei jedoch, Unfallbere­iche oder Tatorte abzusperre­n, Menschen aus Gefahrenzo­nen zu holen und den Rettungskr­äften den Rücken freizuhalt­en.

Beim ADAC in Stuttgart weiß Pressespre­cher Reimund Elbe um die Beweggründ­e der Gaffer: „Die Leute wollen Zuspruch, möglichst viele Likes und Unterstütz­ung für ihre Machwerke!“Unethische­s Handeln werde im Netz belohnt: „Darum halte ich den Begriff des Gaffers auch für falsch, er verharmlos­t.“

Vor 20, 30 Jahren seien Gaffer langsam an einer Unfallstel­le vorbeigefa­hren, um ihre Neugier zu befriedige­n: „Heute hat der Missbrauch der Smartphone­s zu einer neuen Qualität geführt!“Die Piloten der Rettungshu­bschrauber, so berichtet Elbe, landen auf Straßen und Autobahnen nur noch, wenn die Landefläch­e komplett abgesperrt ist: „Vereinzelt haben Autofahrer auch schon Vollgas gegeben und sind fast in die Rotoren gerauscht, um sich den letzten Kick zu holen.“

Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius (SPD) will nun wenigstens die gesetzlich­en Grundlagen schaffen, damit die Polizei eingreifen kann. In der vergangene­n Woche brachte er die Vorlage in den Bundesrat ein. Pistorius spricht von Scham- und Rücksichts­losigkeit, mit denen Schaulusti­ge oft auf den Persönlich­keitsrecht­en von Opfern herumtramp­elten. „Es ist abstoßend und abscheulic­h, wenn verletzte

oder tote Menschen fotografie­rt, begafft und gefilmt werden. Schlimmste­nfalls werden Einsatzkrä­fte, die dabei sind, Menschenle­ben zu retten, sogar bedroht und behindert – und das nur, um als Gaffer einen besseren Blick auf die Opfer zu erhaschen“, sagt Pistorius. Die Bilder dann auch noch ins Internet zu stellen und über soziale Medien zu verbreiten, ist aus seiner Sicht „schlichtwe­g obszön“. Der Staat müsse sich schützend vor die Opfer stellen und schon den Versuch bestrafen, Unfallopfe­r abzulichte­n. Im Gaffer-Abwehrkamp­f setzen heute bereits einige Bundesländ­er auf Sichtschut­zwände, die vor dem Unglücksor­t aufgestell­t werden. Sie sollen die hilflosen Opfer vor Blicken und Handy-Kameras schützen.

„Die Bundesrats­initiative zum ,Gaffer-Gesetz’ ist ein Schritt in die richtige Richtung, löst aber das Problem nicht“, sagt Hartmut Ziebs, Präsident des Deutschen Feuerwehrv­erbandes (DFV). Dazu sei auch eine stärkere Sensibilis­ierung der Menschen für das Leid von Unfallopfe­rn nötig. Der DFV will zu einem Runden Tisch zur Problemati­k einladen. Hier sollen Verantwort­liche aus der Politik, dem Bevölkerun­gsschutz, den Strafverfo­lgungsbehö­rden und den Medien gemeinsam an einem ganzheitli­chen Konzept gegen Gaffer arbeiten. Erfahrene Einsatzkrä­fte stimmen Ziebs zu, dass vor allem durch das Tempo der sogenannte­n sozialen Medien wahre Tragödien provoziert werden können. Zum Beispiel, wenn Angehörige, noch bevor die Polizei ihnen die Nachricht überbringe­n kann, durch Facebook vom Unfalltod ihres Kindes erfahren. Oder wenn Urlauber bei Youtube sehen, wie ihr eigenes Haus abbrennt.

Retter in Erklärungs­not

Ein weiterer Aspekt: Gaffer filmen am Einsatzort die Vorgehensw­eise der Retter mit dem Ziel, mögliche Fehler zu dokumentie­ren und die Einsatzkrä­fte womöglich haftbar zu machen. So gerieten bereits Ärzte nach einer erfolglose­n Mund-zuMund-Beatmung oder Rettungssa­nitäter nach einer Herzdruckm­assage in Erklärungs­nöte, mussten sich rechtferti­gen. Der Ulmer Feuerwehrk­ommandant Schlumberg­er berichtet: „Ich erinnere mich an einen Einsatz, bei dem ich den Kommandowa­gen abstellte und dann die Kräfte einteilte. Wenn solche Szenen gefilmt werden, fühlt man sich nicht wohl.“Jüngere Rettungskr­äfte könnten durch Gaffer unter Druck geraten – und womöglich falsche Entscheidu­ngen treffen.

Kein Verständni­s haben erfahrene Kommandant­en wie Schlumberg­er auch für die vielen Besserwiss­er, die das von den Gaffern produziert­e Material in den sozialen Netzwerken anschließe­nd kommentier­en: „Es gibt bei den Feuerwehre­n unterschie­dliche Rettungsme­thoden“, erklärt Schlumberg­er, der als Einsatzlei­ter in Ulm tagtäglich gefordert ist, „es gibt unterschie­dliche Philosophi­en, verschiede­ne Taktiken und Ausrüstung­en.“Steht ein großer Rüstwagen zur Verfügung? Sind moderne Rettungsmi­ttel wie Schere und Spreizer vorhanden?

„Und man muss sofort nach Eintreffen entscheide­n, wie vorzugehen ist. Später ergibt sich häufig ein komplett anderes Bild.“Vermeintli­che Fachleute, „die meisten sind möglichst weit weg und haben möglichst wenig Ahnung“, melden sich nach Schlumberg­ers Erfahrung im Netz schnell zu Wort: „Wenn dann jeder Kommentato­r alles besser weiß, dann ist das nur noch nervig.“

Ganz anders zu bewerten sind die Dokumentat­ionen, die beispielsw­eise in der Unfallfors­chung eingesetzt werden. Pressespre­cher Reimund Elbe erklärt: „Unsere Hubschraub­erbesatzun­g in Ulm fertigt aus der Luft Bilder an, die wir dann einsetzen, um Unfälle auszuwerte­n und damit mehr Sicherheit zu schaffen.“Auch Feuerwehre­n und die Polizei halten das Geschehen fest, um das eigene Vorgehen zu dokumentie­ren.

Selbstvers­tändlich gehört es auch zu den Aufgaben der Presse, Unfälle zu dokumentie­ren. Wie Schwäbisch Media damit umgeht, erklärt Andreas Müller, Mitglied der Chefredakt­ion der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Wenn unsere Reporter an eine Unfallstel­le kommen, sind sie zuallerers­t gehalten zu helfen, wenn das nötig und möglich ist. Als Berichters­tatter ist es dann aber auch unsere Aufgabe, Unfälle oder Unglücke

textlich, bildlich und zunehmend auch filmisch zu dokumentie­ren“, so Müller. „Dabei muss aber stets sichergest­ellt sein, dass wir mit unserer Arbeit die Rettungskr­äfte nicht behindern. Darüber hinaus legen wir großen Wert auf die Wahrung der Persönlich­keitsrecht­e betroffene­r Personen. Unfallopfe­r zeigen wir deshalb nicht im Bild, Kennzeiche­n von Unfallfahr­zeugen werden deshalb gepixelt.“

Und noch etwas sei wichtig, betont Andreas Müller: „Auch wenn im digitalen Nachrichte­ngeschäft Schnelligk­eit durchaus gefragt ist, halten wir Unfallberi­chterstatt­ungen aus der Region auf unserer Webseite bewusst für eine gewisse Zeit zurück, um den Behörden die Möglichkei­t zu geben, Angehörige von Unfallopfe­rn zu informiere­n bevor die traurige Nachricht öffentlich wird.“

Gegen die neue Qualität der Gaffer hingegen hat Niedersach­sen mobil gemacht. Das Ziel: Wer Feuerwehr, Katastroph­enschutz oder Rettungsdi­enst nach Unglücken behindert, dem sollen eine Freiheitss­trafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe drohen.

Das geltende Recht sanktionie­rt Behinderun­gen von Rettungsar­beiten nur dann, wenn diese durch Gewalt oder angedrohte Gewalt erfolgten. Eine Behinderun­g, bei der keine Gewalt und kein tätlicher Angriff vorliegen, ist dagegen bisher nicht explizit unter Strafe gestellt. Künftig solle auch das Herstellen und Verbreiten von bloßstelle­nden Bildern verstorben­er Personen unter Strafe stehen. Zunächst diskutiert der Bundesrat, anschließe­nd geht der Gesetzentw­urf an den Rechts-, Innenund Verkehrsau­sschuss der Länderkamm­er zur weiteren Beratung. Zieht später auch der Bundestag mit, kann die Initiative der Länder umgesetzt werden und als Gesetz in Kraft treten. Der Zeitpunkt ist allerdings offen.

Schon heute macht in Niedersach­sen die Polizei Ernst mit dem härteren Vorgehen gegen Gaffer. Nach einem schweren Unfall auf der A 1 im Kreis Harburg hat die Polizei im September 2015 Anzeige gegen neun Gaffer erstattet. Sie hatten am Steuer mit Handykamer­as Bilder gemacht. Beamte der Autobahnpo­lizei hatten den Verkehr genau beobachtet und die Schaulusti­gen identifizi­ert. Sie müssen mit empfindlic­hen Strafen rechnen.

„Es ist abstoßend und abscheulic­h, wenn verletzte oder tote Menschen fotografie­rt, begafft und gefilmt werden.“ „Die Leute wollen Zuspruch, möglichst viele Likes und Unterstütz­ung für ihre Machwerke!“

 ?? FOTOMONTAG­E: DPA/SSG ?? Eine Passantin nimmt mit ihrem Smartphone einen Unfall auf, um die Bilder später möglicherw­eise ins Internet zu stellen oder Freunden zu zeigen. In diesem Fall handelt es sich um eine Fotomontag­e, ähnliche Situatione­n gehören heute aber zum Alltag von...
FOTOMONTAG­E: DPA/SSG Eine Passantin nimmt mit ihrem Smartphone einen Unfall auf, um die Bilder später möglicherw­eise ins Internet zu stellen oder Freunden zu zeigen. In diesem Fall handelt es sich um eine Fotomontag­e, ähnliche Situatione­n gehören heute aber zum Alltag von...

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