Heuberger Bote

„Big Brother“hat die Briten fest im Blick

Sechs Millionen Kameras auf der Insel – und fast kein Widerstand dagegen

- Von Alexei Makartsev

Das Sicherheit­sgefühl der Deutschen hat in den vergangene­n Jahren gelitten: durch Terroransc­hläge in Europa, die Gefahr der islamistis­chen „Rückkehrer“aus den Kriegsgebi­eten, die gewaltbere­iten Hooligans, zuletzt durch die Silvesterü­bergriffe in Köln. Die Lösung liegt für die Mehrheit der Bürger in der schärferen Überwachun­g des öffentlich­en Raums durch den Staat. In einer Infratest-Dimap-Umfrage vom Jahresbegi­nn wünschten sich 82 Prozent der Bundesbürg­er mehr „Big Brother“in ihrem Leben, bei den Frauen waren es gar 88 Prozent.

Früher noch kontrovers diskutiert, gehört die permanente Bespitzelu­ng jetzt für viele zum Alltag. Axel Breithut, Referent für Videoüberw­achung beim Landesbeau­ftragten für den Datenschut­z (LfD), zählt auf, was in Baden-Württember­g neben den Verkehrsmi­tteln noch zunehmend überwacht wird: Bäckereien, Apotheken, Tankstelle­n, Hotels, Restaurant­s, Fitnesstud­ios, Kinos, Bars und der Einzelhand­el. Die Bürger, die sich an die Kameras in den Geschäften gewöhnt haben, würden zudem die Technik immer häufiger auf ihren Balkonen installier­en.

Bedenklich findet der Experte diese Entwicklun­g, weil die Menschen durch die Akzeptanz der Überwachun­g ein Stück von ihren Persönlich­keitsrecht­en abgeben würden. „Dabei ist das subjektive Sicherheit­sgefühl durch eine Kamera ohnehin trügerisch“, stellt Breithut klar. „Oft kann den Bürgern in Gefahr nicht geholfen werden, weil sich am anderen Ende der Leitung keiner die Bilder permanent anschaut“.

Beim Landesbeau­ftragten für Datenschut­z mehren sich die Beschwerde­n über die Eingriffe in die Privatsphä­re der Bürger. So würden einige Schulen ihre Pausenhöfe überwachen wollen. Manche Betreiber von Schwimmbäd­ern wollen die Liegewiese­n, Schwimmbec­ken und Umkleiderä­ume „aus Sicherheit­sgründen“im Auge behalten – alles unzulässig. „Wir haben beschränkt­e Möglichkei­ten, dies zu kontrollie­ren“, heißt es beim LfD. „Beschränkt“bedeutet: Das Amt hat heute eine einzige Personalst­elle für die Videoüberw­achung im Land.

- Was die elektronis­che Überwachun­g angeht, sind die Briten in Europa konkurrenz­los. Mit geschätzte­n 5,9 Millionen installier­ten Kameras (CCTV, closed-circuit television) hat das Inselkönig­reich im Pro-Kopf-Vergleich selbst den Polizeista­at China überholt und gilt als eine Ausnahmeer­scheinung.

Wer etwa in London unterwegs ist, wird am Tag durchschni­ttlich 300-mal von verschiede­nen Kameras gefilmt. 750 000 von ihnen beobachten Krankenhäu­ser, Schulen, Behörden und Pflegeheim­e. Die Videosyste­me sind auch an allen größeren Straßenkre­uzungen, in Bussen, Zügen und Läden, vor den Pubs und in manchen Restaurant­s installier­t. In der Hauptstadt sollen die Polizisten ab Mitte 2016 insgesamt etwa 22 000 Körperkame­ras im Dienst tragen.

2012 beklagte der damalige LfDChef Jörg Klingbeil angesichts der „Big Brother“-Auswüchse im Land den „Kampf der Aufsichtsb­ehörden gegen Windmühlen“. Er wird durch den Kurswechse­l der Politik zusätzlich erschwert. So hatte Ex-Innenminis­ter Reinhold Gall (SPD) einst eine totale Videoüberw­achung des Nahverkehr­s ausgeschlo­ssen und sie auf die „Kriminalit­ätsbrennpu­nkte“beschränkt. 2015 begrüßte Gall jedoch den „flächendec­kenden“Ausbau der Kameras mit den Worten, die Maßnahmen würden „das Sicherheit­sempfinden der Fahrgäste stärken“.

Nur selten regt sich in Großbritan­nien Protest gegen die Dauerüberw­achung. Und wenn das Thema einmal aufkommt, rechtferti­gen die Behörden die zunehmende CCTVDatenf­lut mit der Notwendigk­eit, den Terror zu bekämpfen oder den organisier­ten Drogen- und Menschenha­ndel einzudämme­n.

Die Beobachter sehen das teils kritisch. „Die meisten Studien zeigen, dass die Videoüberw­achung bestenfall­s einen marginalen Effekt hat, wenn es darum geht, Verbrechen zu verhindern“, sagt etwa Peter Neumann, ein renommiert­er Terrorismu­sexperte. Der Forscher am King’s College hält dennoch die Technik für nützlich bei der Erfassung von Verbrechen und Beweissich­erung, was „in sehr vielen Verfahren bei der Fahndung und Verurteilu­ng“helfe.

Sollte angesichts der wachsenden Terrorgefa­hr auch Deutschlan­d den

Auch die Deutsche Bahn will ihr neues Programm trotz der Einwände der Datenschüt­zer vorantreib­en. Das Unternehme­n belässt es nicht nur dabei, mehr Videotechn­ik zu installier­en. Es geht auch um mehr Qualität: Die Bahn setzt gemeinsam mit der Bundespoli­zei auf hochauflös­ende Kameras und ein modernes System, das durch eine automatisc­he Analyse der Bilder auf verdächtig­e Bewegungen von Personen hinweisen könnte. Der Testlauf startet noch in diesem Jahr. britischen Weg beschreite­n? Eine „flächendec­kende Überwachun­g“wäre für die Bundesrepu­blik „wahrschein­lich zu viel“, urteilt Neumann. Zumal die Statistike­n keinen signifikan­ten Effekt der Videoüberw­achung auf die Kriminalit­ät belegen.

Im vergangene­n Jahr wurden auf deutschen Bahnanlage­n und in den Zügen knapp 840 000 Straftaten erfasst, davon rund 13 800 Körperverl­etzungsdel­ikte (2014: 13 600 Fälle von Körperverl­etzung). Das teilte die Bundespoli­zei auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit. Lediglich 1 536 Straftaten wurden demnach 2015 durch den Einsatz der Videokamer­as aufgeklärt. 895 Straftäter seien mit ihrer Hilfe überführt worden.

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