„Big Brother“hat die Briten fest im Blick
Sechs Millionen Kameras auf der Insel – und fast kein Widerstand dagegen
Das Sicherheitsgefühl der Deutschen hat in den vergangenen Jahren gelitten: durch Terroranschläge in Europa, die Gefahr der islamistischen „Rückkehrer“aus den Kriegsgebieten, die gewaltbereiten Hooligans, zuletzt durch die Silvesterübergriffe in Köln. Die Lösung liegt für die Mehrheit der Bürger in der schärferen Überwachung des öffentlichen Raums durch den Staat. In einer Infratest-Dimap-Umfrage vom Jahresbeginn wünschten sich 82 Prozent der Bundesbürger mehr „Big Brother“in ihrem Leben, bei den Frauen waren es gar 88 Prozent.
Früher noch kontrovers diskutiert, gehört die permanente Bespitzelung jetzt für viele zum Alltag. Axel Breithut, Referent für Videoüberwachung beim Landesbeauftragten für den Datenschutz (LfD), zählt auf, was in Baden-Württemberg neben den Verkehrsmitteln noch zunehmend überwacht wird: Bäckereien, Apotheken, Tankstellen, Hotels, Restaurants, Fitnesstudios, Kinos, Bars und der Einzelhandel. Die Bürger, die sich an die Kameras in den Geschäften gewöhnt haben, würden zudem die Technik immer häufiger auf ihren Balkonen installieren.
Bedenklich findet der Experte diese Entwicklung, weil die Menschen durch die Akzeptanz der Überwachung ein Stück von ihren Persönlichkeitsrechten abgeben würden. „Dabei ist das subjektive Sicherheitsgefühl durch eine Kamera ohnehin trügerisch“, stellt Breithut klar. „Oft kann den Bürgern in Gefahr nicht geholfen werden, weil sich am anderen Ende der Leitung keiner die Bilder permanent anschaut“.
Beim Landesbeauftragten für Datenschutz mehren sich die Beschwerden über die Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger. So würden einige Schulen ihre Pausenhöfe überwachen wollen. Manche Betreiber von Schwimmbädern wollen die Liegewiesen, Schwimmbecken und Umkleideräume „aus Sicherheitsgründen“im Auge behalten – alles unzulässig. „Wir haben beschränkte Möglichkeiten, dies zu kontrollieren“, heißt es beim LfD. „Beschränkt“bedeutet: Das Amt hat heute eine einzige Personalstelle für die Videoüberwachung im Land.
- Was die elektronische Überwachung angeht, sind die Briten in Europa konkurrenzlos. Mit geschätzten 5,9 Millionen installierten Kameras (CCTV, closed-circuit television) hat das Inselkönigreich im Pro-Kopf-Vergleich selbst den Polizeistaat China überholt und gilt als eine Ausnahmeerscheinung.
Wer etwa in London unterwegs ist, wird am Tag durchschnittlich 300-mal von verschiedenen Kameras gefilmt. 750 000 von ihnen beobachten Krankenhäuser, Schulen, Behörden und Pflegeheime. Die Videosysteme sind auch an allen größeren Straßenkreuzungen, in Bussen, Zügen und Läden, vor den Pubs und in manchen Restaurants installiert. In der Hauptstadt sollen die Polizisten ab Mitte 2016 insgesamt etwa 22 000 Körperkameras im Dienst tragen.
2012 beklagte der damalige LfDChef Jörg Klingbeil angesichts der „Big Brother“-Auswüchse im Land den „Kampf der Aufsichtsbehörden gegen Windmühlen“. Er wird durch den Kurswechsel der Politik zusätzlich erschwert. So hatte Ex-Innenminister Reinhold Gall (SPD) einst eine totale Videoüberwachung des Nahverkehrs ausgeschlossen und sie auf die „Kriminalitätsbrennpunkte“beschränkt. 2015 begrüßte Gall jedoch den „flächendeckenden“Ausbau der Kameras mit den Worten, die Maßnahmen würden „das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste stärken“.
Nur selten regt sich in Großbritannien Protest gegen die Dauerüberwachung. Und wenn das Thema einmal aufkommt, rechtfertigen die Behörden die zunehmende CCTVDatenflut mit der Notwendigkeit, den Terror zu bekämpfen oder den organisierten Drogen- und Menschenhandel einzudämmen.
Die Beobachter sehen das teils kritisch. „Die meisten Studien zeigen, dass die Videoüberwachung bestenfalls einen marginalen Effekt hat, wenn es darum geht, Verbrechen zu verhindern“, sagt etwa Peter Neumann, ein renommierter Terrorismusexperte. Der Forscher am King’s College hält dennoch die Technik für nützlich bei der Erfassung von Verbrechen und Beweissicherung, was „in sehr vielen Verfahren bei der Fahndung und Verurteilung“helfe.
Sollte angesichts der wachsenden Terrorgefahr auch Deutschland den
Auch die Deutsche Bahn will ihr neues Programm trotz der Einwände der Datenschützer vorantreiben. Das Unternehmen belässt es nicht nur dabei, mehr Videotechnik zu installieren. Es geht auch um mehr Qualität: Die Bahn setzt gemeinsam mit der Bundespolizei auf hochauflösende Kameras und ein modernes System, das durch eine automatische Analyse der Bilder auf verdächtige Bewegungen von Personen hinweisen könnte. Der Testlauf startet noch in diesem Jahr. britischen Weg beschreiten? Eine „flächendeckende Überwachung“wäre für die Bundesrepublik „wahrscheinlich zu viel“, urteilt Neumann. Zumal die Statistiken keinen signifikanten Effekt der Videoüberwachung auf die Kriminalität belegen.
Im vergangenen Jahr wurden auf deutschen Bahnanlagen und in den Zügen knapp 840 000 Straftaten erfasst, davon rund 13 800 Körperverletzungsdelikte (2014: 13 600 Fälle von Körperverletzung). Das teilte die Bundespolizei auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit. Lediglich 1 536 Straftaten wurden demnach 2015 durch den Einsatz der Videokameras aufgeklärt. 895 Straftäter seien mit ihrer Hilfe überführt worden.