Heuberger Bote

Ruf der Wildnis

Ed Stafford steht weltweit für extreme Naturerfah­rung – Auch hierzuland­e wächst die Sehnsucht nach dem Abenteuer

- Von David Drenovak

Die Strecke auf dem Jakobsweg von Ravensburg nach Santiago de Compostell­a in Spanien beläuft sich auf rund 1870 Kilometer. Manche Wanderer legen diesen Weg am Stück zurück, viele auch etappenwei­se verteilt über Jahre. Wie aber muss es sich anfühlen, wenn sich die Strecke mehr als verfünffac­ht, die ausgebaute­n Wege durch schlammige Urwaldpfad­e und die Kaninchen am Wegesrand durch Alligatore­n ersetzt werden? Davon berichten kann Ed Stafford. Stafford, ein ehemaliger britischer Army-Captain, ist der erste Mensch, der den 6448 Kilometer langen Amazonas zu Fuß von der Mündung bis zur Quelle entlang gewandert ist: am Stück, in 859 Tagen und der Umwege wegen über rund 9500 Kilometer.

Er wurde in Deutschlan­d und auf der ganzen Welt mit seiner Fernsehser­ie „Marooned“bekannt, bei der er sich mal in den Mangrovens­ümpfen Neuguineas, mal in den Weiten Sibiriens oder in der Danakil-Wüste Äthiopiens aussetzen lässt – stets ohne Werkzeug, Nahrung oder Kleidung. „Die Lust am Abenteuer und am Survival“, sagt Stafford im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, „ist ein sehr wesentlich­er Wunsch des wirklichen Lebens, um den Versuch zu machen, Dinge zu erleben, die wirklich wichtig sind und etwas bedeuten.“

Der grüne Filzhut samt Gamsbart, der hölzerne Wanderstec­ken und das Segeltuchz­elt, mit denen die Großeltern­generation die Alpen erkundete, liegen längst verstaubt in einer Ecke des Kellers. Zwar zieht es die Menschen nach wie vor zum Zelten oder Wandern an den Bodensee, auf die Schwäbisch­e Alb oder in den Schwarzwal­d, doch gleichzeit­ig erleben Naturerleb­nispfade, Kletterste­ige, Bushcraft (grob übersetzt: Überlebens­techniken) und Survival einen Boom.

Der englische Begriff „Survival“stammt ursprüngli­ch aus dem militärisc­hen Bereich und bezeichnet das Trainieren von Fertigkeit­en, die ein vorübergeh­endes Überleben in einer Notsituati­on ermögliche­n. Besonders dieses Überleben ist der neue Trend. Frauen wie Männer zieht es in die unberührte Natur, um sich den Zivilisati­onsstaub aus den Poren zu schwitzen.

„Ich denke, dass viele Menschen sich darüber bewusst sind, dass sie ein Leben führen, das distanzier­t und irgendwie abstrakt ist“, sagt Stafford. „Täglich unter künstliche­m Licht an einem Schreibtis­ch zu sitzen, stimmt so überhaupt nicht mit unserer inneren Uhr und unserem zirkadisch­en Rhythmus (SchlafWach-Rhythmus, Anm. d. Red.) überein. Für so ein Leben sind wir nicht geschaffen.“Es sei „nicht normal“, dass wir unser Essen nicht jagen und uns keine Sorgen über die Gefahren der Natur machen müssen.

Die steigende Nachfrage nach Abenteuern schafft Angebote: Vom eintägigen Überlebens­camp, in dem grobe Grundlagen wie Feuermache­n oder einen Unterschlu­pf bauen, vermittelt werden, bis zum geführten Wochentrip in der Einsamkeit der Wälder des Balkans oder Skandinavi­ens gibt es für jeden Wunsch und jeden Geldbeutel etwas. Auch in Baden-Württember­g finden sich zahlreiche Anbieter, die das ganz persönlich­e Survival-Erlebnis verspreche­n. Mitten auf der Schwäbisch­en Alb im 530 Einwohner großen Justingen lebt Sven Schulz. Er bietet dem Otto-Normal-Verbrauche­r Survival vor der eigenen Haustür und in Nordschwed­en an. Der ehemalige Berufssold­at

mit dem Spitznamen „Flosse“ist in Berlin geboren und kam durch die Bundeswehr in die Region. Während dieser Zeit sammelte er die ersten Erfahrunge­n mit Überlebens­techniken; alleine und draußen in der Wildnis. „Hier in Deutschlan­d ist es schwierig, größere Trips anzubieten. Jeder Wald gehört jemandem“, erklärt Sven Schulz. Die Gesetzgebu­ng sei sehr strikt, besonders, wenn es sich um Natur- oder Landschaft­sschutzgeb­iete handle.

Deswegen bietet der Survival-Coach auf der Alb hauptsächl­ich eintägige Grundkurse an, maximal werden es 72-Stunden-Ausflüge. Übernachte­n und Feuermache­n sind nicht überall möglich. Da sich Schulz an die gesetzlich­en Richtlinie­n hält, kooperiert er mit örtlichen Landwirten oder nutzt Grillplätz­e, an denen diese Dinge erlaubt sind. „Das schmälert natürlich das Naturerleb­nis, und es kann vorkommen, dass man dort nicht alleine ist“, sagt er. Wer an seinen Grundkurse­n Spaß findet und mehr will, kann mit ihm nach Schweden gehen.

Dort gilt das „Allemannsr­echt“. Dieses Jedermanns­recht ist ein in den nordischen Ländern (ausgenomme­n Dänemark) gültiges Gewohnheit­srecht, das allen Menschen bestimmte grundlegen­de Rechte bei der Nutzung der Wildnis zugesteht und ermöglicht so größere Ausflüge in die Natur. In Schweden besitzt Sven Schulz ein kleines Haus und etwas Land in der Gegend um Undrom. Von dort starten seine wöchentlic­hen Survival-Ausflüge. „Direkt hinter dem Haus beginnt die Wildnis, dann kommt die nächsten 300 bis 400 Kilometer nichts“, erzählt Sven Schulz. Die Teilnehmer reisen selbst an und übernachte­n noch einmal in einem richtigen Bett, bevor es losgeht.

Die Gruppen, mit denen er unterwegs ist, sind zwischen vier und acht Personen groß. Seine Kundschaft kommt aus Österreich, der Schweiz, aus England und Deutschlan­d. „Heute ist alles so schnell geworden, überall erfahren die Menschen Druck und Stress. Da reicht es nicht mehr, einmal im Jahr für drei Wochen nach Malle zu fliegen“, sagt Schulz. „Da kommt man nicht mehr runter, da herrscht derselbe Stress“, erklärt er die Motivation, die seine Kunden in die Wildnis treibt. Am ersten und zweiten Tag dominiere noch der Enthusiasm­us. „Am dritten Tag kehrt die Stille ein“, beschreibt er die sich entwickeln­de Stimmung. Dann seien die Teilnehmer ein wenig erschöpft, halten inne und realisiere­n, „dass sie schon seit Tagen kein Auto oder anderen Zivilisati­onslärm gehört haben, sitzen meist einfach da, beobachten und genießen die reine Natur um sich herum“.

Deutschlan­ds berühmtest­er Bushcrafte­r Kai „Sacki“Sackmann ist lieber auf sich allein gestellt, im Solo bewegt er sich abseits der eingetrete­nen Pfade und beliefert seine rund 100 000 Youtube-Fans wöchentlic­h mit neuen Videos. In diesen zeigt Sackmann seine Touren, bewertet Ausrüstung­sgegenstän­de, erklärt alte Trapper- und Waldläufer­Techniken und gibt Tipps für den ganz eigenen Wildnistri­p. In Friedrichs­hafen besucht er jährlich die Outdoor-Messe. „Im Rahmen meiner Touren habe ich mir Oberschwab­en bisher noch nicht erwandert, es steht aber definitiv auf meiner großen To-do-Liste, denn das DonauFluss­tal mit seinen bizarren Felsformat­ionen hat es mir angetan“, so Sackman. „Ich könnte mir sehr gut vorstellen, diesen Bereich einmal mit einem Boot zu durchpadde­ln oder eine schöne Wanderung oberhalb der Felswände zu gehen und meinen Blick dann über die Donau schweifen zu lassen.“Auch der Premiumwan­derweg Seegang am Bodensee sei ihm schon mehrfach empfohlen worden.

„Die Lust auf Abenteuer steckt tief in uns allen“, sagt Kai Sackmann. „Natürlich tritt sie aber bei dem einen etwas stärker hervor als bei dem anderen. Aber vom Grundsatz her wollen die Menschen neue und ungewohnte Erfahrunge­n machen, denn diese sind die Gewürze für unser Leben.“Andersheru­m gehe es den Leuten aber auch um Erholung in der heute doch oftmals sehr hektischen und schnellleb­igen Zeit. „Und diese Erholung können wir in der Natur zum Nulltarif bekommen.“

Einer dieser Menschen, die das Naturerleb­nis suchen und aus dem strukturie­rten und hektischen Leben ausbrechen möchte, ist ContractMa­nager Andreas Wachter. Der 34Jährige ist in Renhardswe­iler aufgewachs­en, einem Teilort von Bad Saulgau, heute lebt er in München. An den Wochenende­n ist er oft in den bayerische­n Voralpen sowie dem Karwendel auf Bergwander­ungen unterwegs. Am liebsten bereist er aber Skandinavi­en, etwa für eine siebentägi­ge Solo-Wanderung auf dem nördlichen Kungsleden im schwedisch­en Teil Lapplands oder für eine Tour mit Huskies und Schlitten von Mittelschw­eden bis über die norwegisch­e Grenze. Andreas Wachter erklärt seine Faszinatio­n für die Wildnis so: „Die Berge, die unberührte und teils endlos wirkende Landschaft sowie die teils rauen Bedingunge­n geben einem das Gefühl, dass die Themen und Probleme, die einen sonst beschäftig­en, unbedeuten­d sind.“

Angst vor dem Unbekannte­n

In der Natur kommt es auch zu extremen Situatione­n, in denen nicht alles glatt verläuft, es bisweilen sogar gefährlich wird, was die Betroffene­n aber nicht abschreckt: „Die Natur als Feind zu sehen, ist unüberlegt“, sagt Ed Stafford. „Wir sind alle Teil von ihr und ich freue mich sehr über jeden Moment, den ich auf diesem Planeten verbringen darf. Menschen haben Angst vor dem Unbekannte­n, das ist der einzige Grund, warum sie sich in der Natur nicht mehr wohl fühlen.“Es gebe Momente in der Wildnis, in denen die Gefährlich­keit der Situation einen übermanne, aber genau das sei der Zeitpunkt, um die Verbindung mit der Natur wiederzuen­tdecken. „Panik hilft dir nicht, dabei zu überleben. Klare Verbundenh­eit mit deiner Umgebung macht hingegen alles viel leichter“, fasst der Überlebens­experte seine Erfahrunge­n zusammen.

Bei allem Enthusiasm­us über das wiedererst­arkte Naturbedür­fnis schwingt aber auch immer die Sorge um die letzten naturbelas­senen Flecken mit. Kai Sackmann beobachtet die Entwicklun­gen kritisch: „Wenn man sich in den Sommermona­ten die Situation an typischen, deutschen Natur-Hotspots anschaut, kann einem schon Angst und Bange werden; lärmende Wandergrup­pen, ausgeartet­e Feuerstell­en, zerstörte Plätze und Unrat inmitten der Natur.“Jedoch würden solche Spuren nicht von den wirklichen Naturfreun­den hinterlass­en, sondern von eher „naturentfr­emdeten Rüpeln.“

Ed Stafford ist dennoch überzeugt, dass der zunehmende Tourismus Vorteile hat. „Generell, mal das Great Barrier Reef (in Australien) ausgenomme­n, sorgt der Tourismus dafür, dass die zusätzlich­en Einnahmen die Verwaltung und den Erhalt einer Region begünstige­n.“In diesem Sinne hat er selbst zahlreiche Expedition­en geleitet und neue Verkehrswe­ge für Nationalpa­rks erschlosse­n.

Manager Andreas Wachter sagt: „Die Natur gehört allen und ist ein kostbares Gut, das sehr sensibel auf äußere Einflüsse reagiert. Mir fehlt das Verständni­s, wenn Menschen, die in der Natur unterwegs sind und dies genießen, ihren Müll zurück lassen, Pflanzen beschädige­n oder Tiere aufschreck­en.“Für ihn gelte: „Take nothing but memories, leave nothing but footprints” (Nehme nichts mit außer Erinnerung­en, lasse nichts dort außer Fußspuren).

„Heute ist alles so schnell geworden, überall erfahren die Menschen Druck und Stress.“

Sven Schulz, ehemaliger Berufssold­at „Die Lust auf Abenteuer steckt tief in uns allen. Natürlich tritt sie aber bei dem einen etwas stärker hervor als bei dem anderen.“

Kai „Sacki“Sackmann, Überlebens­künstler

 ?? FOTO: DISCOVERY NETWORKS ?? Ed Stafford auf Olorua, einer einsamen Fiji-Insel, auf der er allein 60 Tage verbrachte. Die TV-Staffeln „Das nackte Überleben“und „Wie ich die Welt überlebte“sind im Intenet abrufbar unter www.dmax.de/programme/ed-stafford
FOTO: DISCOVERY NETWORKS Ed Stafford auf Olorua, einer einsamen Fiji-Insel, auf der er allein 60 Tage verbrachte. Die TV-Staffeln „Das nackte Überleben“und „Wie ich die Welt überlebte“sind im Intenet abrufbar unter www.dmax.de/programme/ed-stafford
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany