Erfolgreiche Eigenbrötler
Vor 1200 Jahren wurde das Allgäu erstmals urkundlich erwähnt - Inzwischen ist die erfolgreiche Region ein Vorbild für andere
- „Mehr als ein Allgäuer kann der Mensch nicht werden!“- Eine äußerst selbstbewusste Aussage. Sie ist immer wieder auf den T-Shirts meist junger Burschen in den Hügel- und Bergregionen zwischen Wangen im Westen sowie Füssen im Osten zu lesen. Natürlich nicht genau so. Wer etwas auf sich hält – und es kann – redet in einem der vorkommenden schwäbisch-alemannischen Dialekte. Entsprechend heißt es auf den T-Shirts: „Mehr wia a Allgaier ka a Mensch it wera!“Klar, dies ist augenzwinkernd gemeint. In dem Satz spiegelt sich auch der Stolz über das Erreichte wider – weg von einem ärmlichen, von Kühen auf Weiden dominierten Landstrich am nördlichen Alpenrand, hin zu einer wohlhabenden, erfolgreichen Region.
Mit diesem Bewusstsein strebt das Allgäu dieser Tage einem speziellen Jubiläum zu: seiner ersten urkundlichen Nennung vor 1200 Jahren. Damit gehört es zu den ältesten registrierten Regionen im deutschsprachigen Raum. Das konkrete Datum ist der 7. Februar 817. Seinerzeit war Karl der Große gerade mal drei Jahre tot. Ludwig der Fromme herrschte. Deutschland gab es noch nicht. Das Allgäu lag im Reich der Franken. Dass es schriftlich erwähnt wurde, hat mit einer Besitzübertragung an das Kloster St. Gallen zu tun. Die mächtige Abtei, aus der die gleichnamige nordostschweizerische Stadt hervorging, hatte sich der vollständigen Christianisierung der Gebiete östlich des Bodensees verschrieben. An besagtem Datum erhielt sie von einem Wisirih den Flecken Wisirihzell. Dabei steht, dass er im albgauischen Gau liegt - also im Allgäu, wie die Forschung sagt.
Steigende Besucherzahlen
Wisirihzell identifizieren Wissenschaftler als Zell, einen Weiler, der heute zu Oberstaufen gehört. Darum wird der Festakt am Jubiläumstag in der Marktgemeinde, die auch ein Kurort ist, in Sichtweite der Nagelfluhkette veranstaltet. Wobei dieser Anlass vor Ort gelassen gesehen wird – selbst wenn dazu der politisch vorgeblich gewichtigste bayerische Landesminister vorbeischauen will: Finanz- und Heimatminister Markus Söder mit Anspruch auf die Nachfolge als CSU-Chef und Ministerpräsident des Freistaats.
Bei ihnen käme immer irgendwer vorbei, sagen Einheimische auf der örtlichen Flaniermeile. Das stimmt. Oberstaufen ist ein gefragter Urlaubsort. Wanderfreunde kommen, oder Menschen, die Zipperlein oder richtige Krankheiten auskurieren wollen. Die Gästezahl steigt. Dies gilt allgemein fürs Allgäu. 2016 wurden allein im bayerischen Teil der Region bis November fast zwölf Millionen Übernachtungen verzeichnet - über sieben Prozent mehr als im Vorjahr.
Die lapidare Antwort, dass immer irgendwer eintrifft, weist jedoch noch auf etwas anderes hin - auf ein besonderes Gefühl: Gäste reisen an, sie gehen auch wieder - die Allgäuer bleiben aber. „Ein bisschen eigenbrötlerisch sind wir schon“, sagt ein ergrauter Einheimischer, der sich Adi nennt und zusammen mit seinem Freund Hans im örtlichen Café Lässer einen Vormittagskaffee einnimmt. Schnell ist man mit den Rentnern in ein Gespräch über den Charakter des Allgäuers verstrickt. „Bodenständig, eigensinnig, gesellig, wenn man ihn näher kennt. Ein Allgäuer braucht aber etwas Zeit, bevor er mit Fremden warm wird“, beschreiben die beiden das Wesen der Einheimischen.
„Eher wortkarg, zurückhaltend, beobachtend“sei der Allgäuer, ergänzt der Heimatpfleger Karl Stiefenhofer die Aussagen aus dem Oberstaufer Café. Gewöhnt, auf vereinzelt gelegenen Höfen zu wirtschaften, habe er sich seinen eigenen Kopf bewahrt. Wenn der altgestandene Unternehmer über Land und Leute redet, tut dies einer der entscheidenden Experten. Er führt den Allgäuer Heimatbund mit seinen 8000 Mitgliedern.
Zuhause ist er in Eglofstal im württembergischen Teil der Region. Daneben liegt die Grenze zum bayerischen Allgäu, eine Linie, die während der Napoleonischen Zeit willkürlich gezogen wurde. Klar, dass sie Stiefenhofer nicht anerkennt. Unter der Hand nennt ihn mancher „Mister Allgäu“. Dies hängt damit zusammen, dass er sein Leben der Heimatpflege verschrieben hat. Für Außenstehende scheint dies teilweise wunderliche Blüten zu treiben. So ist Stiefenhofer Erfinder des AllgäuAusweises für Einheimische und langjährig ansässige Zugereiste. Von ihm stammt auch die Idee eines Allgäu-Diploms. Hierfür muss ein Seminar zur Geschichte, Tradition und Sprache der Region absolviert werden.
Jüngst hat Stiefenhofer den GrüßGott-Verein gegründet. Damit soll dem Eindringen gestammelter nördlicher Begrüßungsformeln wie „jo“oder „moin“ein Riegel vorgeschoben werden. Stiefenhofer weiß durchaus, dass solche Vorstöße auch belächelt werden. Er sieht sie selber mit Humor, kann aber damit augenzwinkernd seine Ziele verfolgen. So sind die diplomierten Allgäu-Seminare eine Erfolgsgeschichte. Gerne lassen sich unter anderem Bürgermeister, Lehrer, Touristiker oder Vereinsvertreter informieren - alles Meinungsmultiplikatoren, die das Gehörte in die breite Masse weitertragen können. Und diese ist aufnahmebereit. Das hat sich in den vergangenen Jahren auch bei einem sehr ambitionierten Projekt gezeigt. Dabei ging es um die Etablierung des Allgäus als Marke. Sie soll etwas tolles, unverwechselbares ausdrücken.
Das Projekt ist ein Kind der Allgäu GmbH, der einflussreichen regionalen Dachorganisation für Standort und Tourismus. Noch vor wenigen Jahren herrschte allgemeine Skepsis. Wie sollte es funktionieren, all die Eigenbrötler aus den Bergen, den Flusstälern, von den Seen, aus Württemberg und Bayern auf ein gemeinsames Vorgehen einzuschwören? Man machte sich an die Arbeit. „Wir haben mit der Wirtschaft und Kommunalpolitik ein gemeinsames Denken und Handeln entwickelt. Das Kirchturmdenken konnte überwunden und gemeinsame Konzepte entwickelt werden“, berichtet Klaus Fischer, einer der beiden Geschäftsführer der Allgäu GmbH. Letztlich scheint das Projekt trotz holpriger Phasen so gut funktioniert zu haben, dass es nun anderswo schon als Vorbild gilt – etwa bei den benachbarten Vorarlbergern, wie deren Landeshauptmann Markus Wallner zum Jahresbeginn verkündete.
Die Allgäu GmbH sieht auch erste greifbare Effekte. Als solche wertet sie etwa die steigenden Touristenzahlen. Für die Marken-Bildung brauchte es jedoch zuvor eine Grundlage. Aus der Allgäuer Bodenständigkeit heraus war bereits ein Stück weit der regionale Stolz gewachsen. Er beruht zum Teil auf der Landschaft, die man sein Eigen nennt: „Wir leben und arbeiten in einer Region, in der viele andere gerne ihren Urlaub als schönste Zeit des Jahres verbringen“, sagt Gebhard Kaiser, Alt-Landrat des Oberallgäus. Reizvolle Ecken, schroffe Gipfel, selbst globale Top-Ziele wie Schloss Neuschwanstein am Ostzipfel der Region, reichen aber nicht alleine zur positiven Bewusstseinsbildung aus. Erfolgreiches Wirtschaften gehört dazu - und dies war den Allgäuern nicht in die Wiege gelegt.
Jahrhundertelang waren die Menschen mit spärlicher Viehhaltung gerade so über die Runden gekommen. Bis um 1850 herum war der Flachsanbau zur Leinenherstellung verbreitet. Danach entwickelte sich erst erfolgreich die Milchwirtschaft samt Käseherstellung. Weshalb Weidegebiete die Landschaft bis heute prägen. Ende des 19. Jahrhunderts nahm dann der Tourismus seinen Anfang. Schwerpunktmäßig entstand entlang des Illertals Industrie. Teilweise mit beängstigendem Flächenfraß wächst sie dort nach wie vor. So in Kempten, der anerkannten AllgäuMetropole. Sie hat sich zudem durch ihre 1978 eröffnete Hochschule zu einem international beachteten Forschungsund Entwicklungsstandort gemausert.
Lederhose und Laptop
„Wir leben Lederhose und Laptop“, bemüht der höchstrangige politische Vertreter aus dem Allgäu, Entwicklungshilfeminister Gerd Müller, den Bayern-Slogan seiner CSU. Er ist zwar aus der schwäbischen Nachbarschaft zugewandert, vertritt aber weite Teile der Region seit 1994 im Bundestag und gilt als eingebürgert. Politiker wie er freuen sich, dass sie aus jeder Ecke des Allgäus praktisch Vollbeschäftigung melden können. Notgebiete, in die der Minister sonst zu reisen pflegt, sind weit weg.
Bemerkenswerterweise bleibt jedoch bei all den Gesprächen eines im Vagen: Was ist eigentlich alles Allgäu? Zur Zeit der ersten Erwähnung soll es laut Historikern ungefähr den östlichen Lindauer Landkreis sowie das südliche Oberallgäu umfasst haben. Heimatforscher grenzen die Region heutzutage weitaus großzügiger ab. In maximaler Definition geht es im Westen weit über Wangen hinaus. Fast wird schon das oberschwäbische Ravensburg erreicht. Im Norden zählt Memmingen dazu. Den Osten begrenzt grob der Lech, den Süden die Allgäuer Alpen. Damit aber nicht genug: Das Allgäu wächst weiter.
Diesen wunderlichen Ausdehnungsvorgang ermöglicht vor allem der 1972 geschaffene Landkreis Unterallgäu. Landschaftlich, historisch oder folkloristisch hat er größtenteils nichts mit dem eigentlichen Allgäu zu tun. Ein reines Kunstgebilde eben. Dennoch wirbt etwa die Kreisstadt Mindelheim ganz selbstverständlich mit einer Allgäu-Lage. Undenkbar für diese Städter, als damit noch das Kuhimage verbunden war.
Aber das Allgäu ist einfach zu anziehend geworden.