Heuberger Bote

Von der Chirurgie zur Rüstung

Rückblick auf 150 Jahre Aesculap: Vom Ende des Ersten zum Ende des Zweiten Weltkriegs

- Von Christian Gerards

- Im Jahr 1917, dem vorletzten Jahr des Ersten Weltkriegs, hat sich das Tuttlinger Medizintec­hnik-Unternehme­n Aesculap, das in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiert, als „größte Waffenfabr­ik des Friedens im Weltkrieg“bezeichnet. Nur wenige Jahre später musste das Unternehme­n, das sich eigentlich auf die Produktion von chirurgisc­hen Instrument­en spezialisi­ert hatte, erneut auf Kriegsindu­strie umstellen. Nazi-Deutschlan­d begann am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen den fast sechs Jahre dauernden Zweiten Weltkrieg.

Im Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) brach der Export der Aesculap AG, die damals noch Aktiengese­llschaft für Feinmechan­ik vormals Jetter & Scheerer hieß, in die Länder der Kriegsgegn­er ab. Weiterhin konnte das Unternehme­n aber seine Instrument­e in die mit dem Deutschen Reich verbündete­n Länder verkaufen. Doch der Markt wurde zu klein, so dass die Medizintec­hnik-Unternehme­n auf Halde produziert­en. Aesculap stiegt auch in die Kriegsindu­strie ein.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit der Unterzeich­nung des Versailler Vertrags waren die Lager bei den Medizintec­hnikern voll, und die Unternehme­n konnten sofort liefern. „Die Geschäftsv­erbindunge­n mit dem Ausland waren schnell wieder geknüpft“, heißt es in dem Buch „Tuttlingen – Weltzentru­m der Medizintec­hnik“von Ex-Aesculap-Chef Michael Ungethüm und dem ehemaligen Kreisarchi­var Wolfgang Kramer. Vor allem die Amerikaner steckten ihr Geld in die Medizintec­hnik. Dagegen litt das Inlandsges­chäft an der mangelnden Finanzkraf­t und der bis November 1923 stark zunehmende­n Inflation.

Dennoch: Im Jahr 1922 enthielt der „Illustrier­te Hauptkatal­og“von Aesculap stolze 2848 Seiten mit zehntausen­den Artikeln vom Brutschran­k über den Garderoben­haken für den Arztkittel bis zum Leichentra­nsportwage­n. Dazu kam das Kerngeschä­ft: die chirurgisc­hen Instrument­e aller Art und Disziplin.

Kurzarbeit und niedrige Löhne

Der Nachkriegs­boom in der Tuttlinger Medizintec­hnik ebbte noch in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre deutlich ab. „Ein gravierend­er Kapitalman­gel stoppte die Aufwärtsen­twicklung. Kurzarbeit und niedrige Löhne in den Fabriken bewogen einige Arbeiter, sich selbststän­dig zu machen“, heißt es in „Tuttlingen – Weltzentru­m der Medizintec­hnik“. Das war die Zeit, in der in Tuttlingen etwa die Firmen Chiron und Gebrüder Martin gegründet wurden.

Trotz einer besseren Phase nach 1925 blieb der Absatz der Produkte das große Problem. Die Exportquot­e von Aesculap erreicht in dieser Zeit einen Wert von satten 73 Prozent. Die bis dahin umfangreic­he bauliche Entwicklun­g des Aesculap-Werksgelän­des fand aufgrund des finanziell­en Engpasses im Jahr 1924 ihr zwischenze­itlich jähes Ende.

In der Weltwirtsc­haftskrise 1930 bis 1933, in dessen Folge die Nationalso­zialisten in Deutschlan­d an die Macht kamen, ging die Mitarbeite­rzahl bei Aesculap von 1800 auf 1100 zurück, die Wochenarbe­itszeit wurde von 48 auf 36 Stunden gesenkt. 1932 trat Kommerzien­rat Karl Christian Scheerer aus der Unternehme­nsleitung zurück. Den Vorstandsp­osten hatte er seit dem Jahr 1895 inne gehabt. Ihm folgten seine Söhne Fritz und Hans Scheerer nach.

Die Gleichscha­ltung der Nationalso­zialisten machte 1933 auch vor Aesculap nicht halt. Am 27. Juni erwischte es den Betriebsra­t, als der Kreisleite­r der Deutschen Arbeitsfro­nt (DAF) elf Mitglieder des Arbeiterun­d sechs des Angestellt­enrats ernannte. Laut der Festschrif­t zum 125-jährigen Bestehen von Aesculap war die Beziehung zu den neuen Machthaber­n ambivalent. Schon vor 1933 unterhielt Aesculap „wirtschaft­liche Beziehunge­n zu den braunen Herren“. Im Oktober 1931 bot das Unternehme­n „den Herren der SA- und SS-Formatione­n“seine „Qualitätse­rzeugnisse“an.

Eine Distanz zu den Nationalso­zialisten blieb laut der Unternehme­nschronik bestehen. So wurde Hans Scheerer wegen Beleidigun­g von Adolf Hitler zu einer viermonati­gen Gefängniss­trafe verurteilt. Sein Bruder Fritz musste sich 1943 vor Gericht verantwort­en, weil er sich „abfällig über die Partei sowie die Frau des Reichsmars­challs Hermann Göring und die Frau des Reichsmini­sters Dr. Goebbels“geäußert haben soll. Die Politik der Nationalso­zialisten führte dazu, dass Aesculap finanziell wieder in ruhigeres Fahrwasser geriet. Schließlic­h rüsteten die Nazis Deutschlan­d auf und kauften für die Sanitätsei­nheiten des Militärs kräftig ein.

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 brachte erneut eine Zäsur in die Geschicke des Unternehme­ns. Aesculap wurde zunehmend zum Rüstungsbe­trieb – zunächst für Seitengewe­hre, später vor allem als Zulieferer für die Luftfahrtu­nd Automobili­ndustrie – umfunktion­iert und stellte neben den traditione­llen Produkten wie schon im Ersten Weltkrieg Kriegsmate­rial her. Die amerikanis­che Niederlass­ung wurde wie schon im Verlauf des Ersten Weltkriegs von den Amerikaner­n beschlagna­hmt und fiel für die Produktion chirurgisc­her Instrument­e ebenfalls aus.

Karl Christian Scheerer stirbt 1938

Vor allem nach der Proklamati­on des „Totalen Kriegs“durch Goebbels im Jahr 1943 dreht es sich in der Produktion fast nur noch um die Kriegsindu­strie. Schon zwei Jahre nach Kriegsbegi­nn war der Verkauf von chirurgisc­hen Instrument­en auf fünf Prozent des Umsatzes von 1938, dem Jahr als Karl Christian Scheerer 81jährig starb, herunterge­fahren worden. Zwangsarbe­iter und Kriegsgefa­ngene, die im Lager Mühlau in Tuttlingen einkaserni­ert wurden, mussten für die zum Kriegsdien­st eingezogen­en Männer schuften. Gegen die Bombenangr­iffe der Alliierten wurde das Hauptgebäu­de von Aesculap mit Tarnfarbe versehen. Diesen Anstrich sollte das Gebäude bis in die 1970er-Jahre behalten.

Nach dem Einmarsch französisc­her Soldaten in Tuttlingen wurde Aesculap von ihnen besetzt und viele Maschinen, die Rede ist von mehr als „400 der modernsten Werkzeugma­schinen“, wurden von April bis Juni 1946 demontiert, um sie als Kriegsents­chädigung nach Frankreich zu bringen.

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FOTO: AESCULAP Eine Arbeitssze­ne aus dem Jahr 1927 vom Aesculap- Betriebsge­lände.
 ?? FOTO: AESCULAP ?? Das Hauptgebäu­de von Aesculap gegenüber des Tuttlinger Bahnhofs trägt bis in die 1970er-Jahre Tarnfarbe.
FOTO: AESCULAP Das Hauptgebäu­de von Aesculap gegenüber des Tuttlinger Bahnhofs trägt bis in die 1970er-Jahre Tarnfarbe.

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