Unter Todesangst geflohen
In Syrien gekidnappter UN-Mann begegnet im Oberlandesgericht Stuttgart seinem mutmaßlichen Peiniger
Masera, Abu Jaffar, Abu Hussein und Abu Malela, Abu Muhammed und Abu Yasser, so hätten seine Wächter in den acht Monaten Geiselhaft geheißen, sagt Carl Campeau, ein Mann mit weichem Gesicht, dicken Brillengläsern und einer Halbglatze. Immer mal hätten seine Aufpasser gewechselt, der eine sei gebildet gewesen, der andere sadistisch, einer habe ihn vor dem sicheren Tod bewahrt, ein anderer einen Fernseher in der Gefangenschaft besorgt. Wieder ein anderer habe sich darüber empört, dass er seine französische Ausgabe des Korans mit handschriftlichen Anmerkungen versehen habe. Außerdem habe es da noch einen Abu Jemen gegeben, dann den saudischen Scheich, der die pakistanischen Milizenchefs abgelöst habe, schließlich Abu Saif und dann eben auch Abu Adam.
Und dieser Abu Adam ist auch hier in dem Gerichtssaal, in dem vor 40 Jahren der deutsche RAF-Terrorismus verhandelt wurde, gleich neben dem Hochsicherheitsgefängnis. Der Saal aus einer Zeit, in der man noch nicht wusste, wie man mit Sichtbeton schön bauen kann, ist mit beigem Teppichboden ausgelegt, die Zuschauer sitzen in altmodischen orangen Hartschalen. Und zur Mittagszeit zieht ein Geruch nach Kantinenessen durch den Saal, weil die Verpflegung für Richter, Ankläger und Verteidiger angeliefert wird.
Kampfname Abu Adam
Wo einst Ulrike Meinhof und Andreas Baader saßen, sitzt heute Abu Adam, der bürgerlich Suliman al-S. heißt. Vor einem Jahr ist er in Backnang festgenommen worden. Dort lebte der anerkannte Asylbewerber, heute 25 Jahre alt, ein gedrungener Mann mit Islamistenbart und schwarzem Haarzopf. Suliman al-S. soll als junger Kämpfer der NusraFront an der Entführung des Kanadiers Carl Campeau vor ziemlich genau vier Jahren beteiligt gewesen sein. Unter seinem Kampfnamen Abu Adam soll er in den ersten Monaten der Geiselhaft auf Campeau aufgepasst haben, bevor er über Tunesien, Libyen und Italien nach Deutschland geflohen kam. Der Kanadier hat den Syrer auf Fotos erkannt, die ihm der kanadische Geheimdienst vorgelegt hat.
Am Mittwoch saßen die beiden, die sich das letzte Mal vor vier Jahren in einem Landhaus südwestlich von Damaskus gesehen haben sollen, nur 15 Meter auseinander. Campeau tritt als Nebenkläger in diesem Staatsschutzverfahren auf. Als er in den Zeugenstand tritt, mustert ihn der Angeklagte interessiert von der Seite. Wie soll Campeau jemandem begegnen, der ihm Todesangst eingejagt hat, der aber auch darauf geachtet hat, dass er täglich seine zwei Mahlzeiten bekam?
Wäre da damals nicht die Sache mit seinem Knie gewesen, würde es dieses Verfahren vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart gar nicht geben. Aber der Kanadier Carl Campeau, juristischer Berater bei den Vereinten Nationen auf den Golanhöhen, brauchte nach einer Knieoperation in Bayern dringend Physiotherapie. Nun gibt es nicht so viele Physiotherapeuten auf den Golanhöhen, dem von Israel seit 50 Jahren besetzten Gebirge, das eigentlich zu Syrien gehört. Und da die UN nun mal gut für ihre Mitarbeiter sorgt, konnte der heute 52-jährige Mann an einem Sonntag im Februar 2013 von den Golanhöhen aus nach Damaskus fahren. Zur Physiotherapie. In Friedenszeiten wäre das ein wunderbarer Ausflug gewesen, vorbei am Berg Hermon, durch Felder mit Weizen, Gurken und Olivenbäumen. Aber in Syrien herrschte bereits Bürgerkrieg, in einigen Landstrichen südwestlich von Damaskus trieben sich Aufständische herum, die manche Beobachter Rebellen nennen, andere als Terroristen bezeichnen.
Campeau aber, dessen Frau und Kinder immer in Wien blieben, wenn er auf Einsätze in den Kosovo oder auf die Golanhöhen ging, geriet in der Stadt Khan Alsheh, auf halbem Wege nach Damaskus, in eine Straßensperre. Der Ort sei voll gewesen, langsam habe sich das Auto durch die Menschenmassen im Stadtzentrum geschoben, erinnerte sich Campeau am Mittwoch. Doch dann hätten hinter einer Kurve sechs oder sieben junge Bewaffnete gestanden. Die Männer, so stellte sich bald heraus, gehörten zur Jabhat al-Nusra, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks al-Kaida. Deren bis zu 8000 Mitglieder sollen mehrheitlich Syrer sein, Terrorismusexperten gehen davon aus, dass al-Nusra mittelfristig so gefährlich werden kann wie der „Islamische Staat“. Beide entstanden nach der amerikanischen Invasion im Irak und dem Sturz Saddam Husseins, beide wollen in der Levante ein Kalifat errichten.
Was in Stammheim erst wie ein schleppender Bericht über ein operiertes Knie daherkommt, verdichtet sich im Laufe der Stunden unter dem Vorsitz von Richter Herbert Anderer zu einer großen Erzählung über den Krieg in Syrien. Campeau, der heute an einem geheimen Ort im Ausland lebt und von LKA-Beamten auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung geschützt wird, beschreibt mit Blick für das Detail, wie er in eine Villa außerhalb von Khan Alsheh verschleppt wurde, offenbar eines dieser Landhäuser, das sich Leute, die in Damaskus zu Wohlstand gekommen sind, gerne in ihren Heimatdörfern bauen lassen. „Die Möbel wurden vor die Fenster geschoben, ich sah kaum Tageslicht.“Die al-Nusra-Front richtete am Ort seiner Gefangenschaft ein Ausbildungslager ein, in dem Koranstunden ebenso gegeben wurden wie Einweisungen in Sprengstoffattentate. Manchmal seien auch erschöpfte Kämpfer gekommen, um sich dort auf dem Land zu erholen.
Böser Witz
Im Laufe der Wochen konnte der kanadische Jurist die Eigenarten seiner Wächter immer besser einschätzen, er wusste, wer intelligent war, so wie Abu Jaffar, der einen Universitätsabschluss hatte und erzählte, wie er über sechs Monate in einem Gefängnis täglich gefoltert worden sei. Und als Abu Malela einmal einen bösen Witz machte und der Geisel erklärte, wenn der Kopf ab sei, werde er mit ihm Fußball spielen, da beschwerte sich Campeau sogar und forderte bessere Behandlung ein.
Der Kanadier lässt die Anspannung erahnen, unter der er lebte und die immer größer werdende Angst, weil alle Anstrengungen der Entführer, die Geisel einzutauschen, im Nichts mündeten. Zunächst wurden zwei Millionen Dollar Lösegeld gefordert, dann sieben Millionen. Als die kanadische Regierung erklärte, sie zahle nicht bei Entführungen, sei aber bereit, Milchpulver für syrische Kinder zu liefern, wurde die Lage in dem muffigen Zimmer im Landhaus bedrohlich. Auch die Versuche, Campeau gegen in Syrien oder den USA inhaftierte Kämpfer auszutauschen, scheiterten kläglich.
Irgendwann sah Carl Campeau keinen anderen Ausweg, als zum Islam zu konvertieren. Zunächst musste er die religiösen Diskussionen führen, wie sie im Nahen Osten typisch sind: ob er wirklich glaube, dass Jesus der Sohn Gottes gewesen sei. Campeau reagierte klug und sagte, Jesus sei ein Sohn Gottes so wie alle Männer. Aber das reichte den Fanatikern nicht und schließlich durchlief der UN-Mann alle Rituale, erklärte, dass Jesus nur ein Mensch gewesen sei. Als er dann als Muslim galt, habe einer gesagt, jetzt laufe er nicht mehr Gefahr, getötet zu werden.
Übertritt zum Islam
Abu Adam aber, der 25-jährige Angeklagte, sitzt im Gerichtssaal unbeteiligt dabei. Manchmal schaut er auf seine Fingernägel, als käme er gerade von der Maniküre. Zwischendurch lächelt er seine Münchner Anwältin an, die auch schon früher Angehörige von Terrorgruppen vertreten hat.
Sein Übertritt zum Islam hat Campeau schließlich die Flucht ermöglicht: Nach einem Morgengebet mit seinen Bewachern ging er wieder auf sein Zimmer und bemerkte, dass die Wächter vergaßen, die Tür hinter ihm zu verriegeln. Als die Terroristen auf das Nachbargrundstück zur morgendlichen Sportrunde gingen, sei er geflohen. Wenn Campeau seine Überlegungen beschreibt, ob er eine Waffe mitnehmen soll oder nicht, wohin er laufen und wie er sich verhalten soll, kann es den Zuhörern einen Stein auf die Brust legen.
Flucht über Felder
Er habe sich einen arabischen Schal, früher nannte man das in Europa ein Arafat-Tuch, um den Kopf gewickelt, sei drei Stunden lang in einem trockenen Wasserkanal durch die Felder gelaufen. „Manchmal kam ich den Bauern nahe, sie riefen ,Salam’ und ich grüßte zurück“, erinnerte er sich am Mittwoch in Stammheim. Und fügte dann noch hinzu, wie um all jenen im Gerichtssaal zu erklären, die Krieg nicht aus eigenem Erleben kennen: Das Erstaunliche am Krieg sei, dass Menschen sich bekämpften und töteten und andere mitten im Krieg weiter ihrer Arbeit auf den Feldern nachgingen, weil sie überleben müssten.
Irgendwann stieß Campeau auf eine Stellung der syrischen Armee, wurde nach Damaskus gebracht und war einen Tag später zu Hause in Wien.
Als Campeau fertig erzählt hatte, stand Abu Adam auf und ließ sich wieder Handschellen anlegen. Kommenden Montag soll der Kanadier weitererzählen.