Liebe reimt sich nicht auf Triebe
Alban Bergs Oper „Lulu“spielt am Ulmer Theater in einer Manege
ULM - Bei der Premiere von Alban Bergs „Lulu“am Ulmer Theater wurde Mathias Kaisers Inszenierung ebenso gefeiert wie die von Timo Handschuh dirigierte Aufführung. Kaiser lässt das Stück in einer Manege spielen. Teile des Theaterpublikums sitzen als Zirkusbesucher links und rechts auf der Bühne (Detlev Beaujean). Rote, von der Decke hängende Stoffbahnen und rötliches Licht (Johannes Grebing) suggerieren Zeltatmosphäre. Die weißen Anzüge der Darsteller und die von Roberto Scafati choreografierten Tanzeinlagen gemahnen an eine Revue.
Berg hat die als Dreiakter geplante Oper nach Frank Wedekinds Tragödien „Erdgeist“und „Die Büchse der Pandora“unvollendet hinterlassen. Als er 1935 starb, waren zwei Akte fertig, vom dritten der Text weitgehend fixiert und einige Passagen musikalisch skizziert. Vor 80 Jahren wurde das Stück in Zürich in zweiaktiger Fassung mit fragmentarischem Nachspiel aus der Taufe gehoben. Erst 1979 kam eine von Friedrich Cerha fertiggestellte dreiaktige Fassung auf die Bühne. In Ulm hat man sich bewusst für die Fragmentfassung entschieden. Kaiser und Scafati fanden gerade die Leerstellen des Torsos reizvoll, weil sie mehr Raum für Interpretation lassen und sich für Ballettszenen „ohne Worte“eignen.
Narkotische Orchesterklänge
Wie die Titelfigur bleibt in der unvollständigen Version auch das Stück selbst rätselhafter. In Ulm ist Lulu (Maria Rosendorfsky) ein Wesen ohne Seele, triebhaft wie ein schönes, aber gefährlich wildes Tier, das nichts von Moral und Religion weiß und jenseits von Gut und Böse agiert. Gleich zu Beginn wird von einem Dompteur (Martin Gäbler) ihr tänzerisches Double (Beatrice Panero) als rote Schlange mit gespaltener Zunge vorgestellt: eine Art weiblicher Mephisto, der Männer wie bei einer Zirkusnummer mit artistisch beweglichen Beinen umräkelt.
Entspringt diese doppelte Lulu bloßen Männerphantasien? Oder ist sie als ihr krankhaft exhibitionistisches Produkt gleichzeitig Täterin und Opfer? Der Werbespruch, die Oper zeige „alles, was Männer sich wünschen“, kommt jedenfalls genauso klischeehaft daher wie die Reduktion einer Frau auf das Modell einer Femme fatale. In „Lulu“ahnen die Verführten schon im Voraus, dass sie ins Verderben driften. Aus ihrer Doppelmoral, die Gier mit Liebe verwechselt, zieht die Verführerin zerstörerische Kräfte.
Auch alle anderen Figuren des Stücks werden tänzerisch gedoppelt. Mitglieder der Ballettcompagnie des Theaters Ulm mischen als Tiere mit weißen Papierköpfen immer wieder die turbulente Szene auf. Großartig meistern die Gesangssolisten ihre schwierigen Partien. Rosendorfsky gibt als gefühlskalte Lulu eine vokal und darstellerisch brillante Vorstellung. Dasselbe gilt für Johannes Grau (hier ein Fotograf statt ein Maler), Tomasz Kaluzny (Dr. Schön), Michael Gniffke (Alwa) sowie J. Emanual Pichler (Schigolch).
Das sprachnahe, gleichwohl kantable Melos der Singstimmen und die souverän gesprochenen Dialoge betten sich vorbildlich ein in Bergs narkotische Orchesterklänge, die Handschuh suggestiv aus dem Graben tönen lässt. Selten hört man so klar und überzeugend, wie sehr der Komponist die Zwölftonregeln seines Lehrers Arnold Schönberg in fast spätromantische Bahnen gelenkt hat. Besonders in den Zwischenmusiken gelingen eindrucksvolle Momente mit satter Streichermacht und dräuenden Bläsereruptionen.
Am Ende wird Lulu eingeholt von ihrer Triebhaftigkeit. Nach wortloser, orchestral zugespitzter Vergewaltigung wird schließlich ihr zu einem grässlichen Tutti-Akkord ein Messer in die Rippen gestochen. Der finale Trauergesang gehört der stimmlich herausragenden I Chiao Shih als Gräfin Geschwitz.