„Um die Zukunft des Judentums in Deutschland sollten wir uns keine Sorgen machen“
Der Historiker Dmitrij Belkin über Erfolge und Schwierigkeiten bei der Integration russischer Juden
- Dmitrij Belkin ist Historiker, Kurator und Referent beim jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk in Berlin. Er ist Autor des vielfach gelobten Buches „Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde“(Campus Verlag, 2016, 19,95 Euro). Belkin kam 1993 als „Kontingentflüchtling“nach Deutschland, zehn Jahre lebte er in Tübingen. Dirk Grupe sprach mit ihm über die russischen Juden und die Aussicht des Judentums in Deutschland.
Herr Belkin, wie lässt sich das Judentum, beziehungsweise das Dasein als Jude, in der früheren Sowjetunion beschreiben?
Was das Leben als Jude in der ExUdSSR angeht, so möchte ich das auf eine knappe Formel bringen: „ein widersprüchliches ,Nicht-Opfer’-Dasein“. Es gab alles Mögliche – den Atheismus und ein starkes ethnischkulturelles Selbstverständnis als Jude, jüdische berufliche und persönliche Netzwerke und den alltäglichen, auch staatlich sanktionierten Antisemitismus, die Israel-Liebe und den Antizionismus. Eines fehlte: Juden waren keine Opfergruppe. Für sich nicht und für den sowjetischen Staat nicht. Auch das Holocaust-Gedächtnis war in der UdSSR bis 1990-91 höchstens im Privaten vorhanden, obwohl der Holocaust im Wesentlichen auf dem Territorium der UdSSR und Polens stattfand. Das war eine paradoxe und auch schwierige Gemengelage für 1,5 bis 2 Millionen Juden der Sowjetunion.
Mit welchen Problemen hatten die Neuankömmlinge dann in Deutschland zu kämpfen?
Mit dem Zerfall ihres Landes, der UdSSR, und mit dem massiven sozia- len und beruflichen Abstieg der Älteren in Deutschland. Dazu kam, dass eine staatliche Erwartung an die Juden und die Erwartungen der jüdischen Gemeinden in Deutschland massiv andere waren: Man erwartete die Religion suchenden, verfolgten Juden und man bekam nicht selten die hochgebildeten übermüdeten Sowjetbürger. Diese Begegnung war nicht ganz ohne.
Die Einreisewelle der „Kontigentflüchtlinge“endete vor mehr als zehn Jahren. Wie hat sich diese Gemeinschaft in dieser Zeit entwickelt?
So wie sich urbane, gebildete, dynamische Gruppen – und die Juden gehören zuvorderst dazu – überall entwickeln: Die Jüngeren sind bestens angekommen, den Älteren geht es vergleichsweise gut – sie werden medizinisch und sozial versorgt, was viel wert ist. Was fehlt, ist die Anerkennung und die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, auf diese Gruppen zuzugehen, ohne vorzuschreiben: Werdet wie wir, dann sehen wir weiter. So geht die „Integration“nicht. Sie ist nämlich ein ständiges gegenseitiges „Integrieren“.
Es heißt, vor allem die Kinder der Einwanderer stehen heute für ein neues Judentum in Deutschland. Sehen Sie die Rolle des Nachwuchses ähnlich bedeutsam?
Ich sehe das jeden Tag und jede Woche: Über 300 Stipendiatinnen und Stipendiaten des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks kommen zu 80 bis 85 Prozent aus dem Milieu der postsowjetischen Einwanderer. Sie sind in Deutschland aufgewachsen, manche hier geboren. Sie sprechen vier bis fünf Sprachen, sind bewusste Jüdinnen und Juden, die neue, plurale Formen einer jüdischen Existenz und eines gesellschaftlichen Zusammenhalts suchen und offen und dialogbereit sind. Um die Zukunft des Judentums in Deutschland sollten wir uns keine Sorgen machen – höchstens demografisch müsste man noch „nachlegen“.
Wenn in Rottweil eine Synagoge eingeweiht wird, welche Botschaft, welche Symbolik ist dahinter erkennbar?
Es geht weiter. Nicht „wie früher“, also vor 1933 beziehungsweise 1945. Anders und hoffentlich tolerant und sicher. Denn auch vor diesem schönen Objekt, der neuen Rottweiler Synagoge, wird ein Polizeiauto stehen müssen und die Gäste werden streng, „Flughafen“-mäßig, kontrolliert werden. Schön wäre es, wenn die ruhmhafte und dramatische Rottweiler jüdische Geschichte nicht vergessen würde und gleichzeitig die Biografien und Geschichten der jetzigen Juden berücksichtigt würden. Dann entsteht ein schöner, offener jüdischer Raum in Rottweil – was der Stadt und auch Deutschland von Herzen zu wünschen ist.