Armut auf neuem Rekordwert
Studie: Rund 13 Millionen Menschen sind gefährdet
(dpa) - Immer mehr Menschen in Deutschland drohen in Armut abzustürzen. „Deutschland hat mit 15,7 Prozent Armutsquote leider einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht“, sagte der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, bei der Vorstellung des neuen Armutsberichts am Donnerstag in Berlin. Somit lagen 2015 in Deutschland 12,9 Millionen Menschen unter der Grenze für Armutsgefährdung. Der Wohlfahrtsverband beruft sich auf Daten des Statistischen Bundesamt, das den Anteil der Menschen mit einem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens misst. Die Quote stieg von zuvor 15,4 Prozent auf den jüngsten Wert aus dem Jahr 2015 an. Zehn Jahr zuvor lag sie bei 14,7 Prozent. „Die wirtschaftliche Entwicklung schlägt sich schon lange nicht mehr in einem Sinken der Armut nieder“, sagte Schneider.
- 16 von 100 Menschen sind laut dem Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands von Armut bedroht. Das sind fast 13 Millionen Menschen in der Bundesrepublik. Insgesamt zehn Sozialorganisationen haben den Bericht gemeinsam verfasst.
Die Zahlen zeigten einen „Höchststand seit der Wiedervereinigung“, erklärte Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, am Donnerstag bei der Vorstellung des Berichts. „Es ist ein zunehmender Trend. Die wirtschaftliche Entwicklung schlägt sich schon lange nicht mehr im Sinken der Armut nieder.“
Nicht alle sehen Deutschland als das Land der Abgehängten und Verlierer, deswegen wird der Bericht zum Politikum. Wahlkampfmunition für SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz, der das Thema soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gerückt hat, finden die Sozialdemokraten. Der Bericht sei „die Bestätigung, dass Martin Schulz nicht irgendeine Fantasie-Diskussion führt“, sagte Ex-SPD-Chef Kurt Beck am Donnerstag im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Doch Experten und Unionspolitiker halten dagegen: „Unter verzerrter Darstellung der Fakten wird eine alarmistische Stimmung geschürt“, warf der Chef des Münchner ifo-Instituts, Clemens Fuest, am Donnerstag den Verfassern des Berichts vor. Fuest verwies darauf, dass es heute eine Million Menschen weniger in der Mindestsicherung gibt als vor zehn Jahren.
Streit über Armutsbegriff
Scharfe Kritik übte auch Unionsfraktionsvize Michael Fuchs (CDU): „Unsere Nachbarländer reiben sich verwundert die Augen, wie man auf so hohem Niveau noch klagen kann. Für mich ist das Wahlkampf pur: lieber Neiddiskussionen anzetteln als ein bisschen stolz auf das Erreichte blicken“, sagte Fuchs.
Der Streit über den Bericht entzündet sich unter anderem am Armutsbegriff: Die Verbände stufen alle Menschen als „arm“ein, deren Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens liegt. Die Daten kommen vom Statistischen Bundesamt, das Menschen an dieser Schwelle als „armutsgefährdet“einstuft. Sie liegt für Singles bei einem Nettoeinkommen von knapp 1000 Euro, für ein Paar mit einem Kind bei 1700 Euro. Im neuen Armutsbericht wurde die Entwicklung von 2005 bis 2015 verfolgt. In den zehn Jahren ist die Quote von 14,7 auf 15,7 Prozent angestiegen. Wobei sich die Regionen ganz unterschiedlich entwickelten: In allen ostdeutschen Ländern außer Berlin ging die Armutsquote zurück, in allen westdeutschen Bundesländern außer Bayern und Hamburg stieg sie merkbar an.
Das Ruhrgebiet und Berlin seien nun „die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands“, heißt es im Bericht, auch wenn die Quote in Gesamt-NRW bei 17,5 Prozent stabil geblieben ist. Als „alarmierend“wird die Armutsentwicklung bei Rentnern eingestuft, hier stieg die Quote von 10,7 auf 15,9 Prozent. Von einer „Lawine der Altersarmut“sprach Wolfram Friedersdorf, Präsident der Volkssolidarität. „Es ist beängstigend, wie mit Älteren in der Gesellschaft umgegangen wird.“
Die Zahlen der Studie belegten die Trends vieler anderer Erhebungen, sagte Ex-SPD-Chef Kurt Beck: „Es ist eine dringende Aufgabe, unsere Gesellschaft wieder zusammenzuführen.“Er sehe darin eine Argumentationshilfe für den Wahlkampfschwerpunkt von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Ist die Entschärfung der Agenda 2010 das Gebot der Stunde, wie Schulz sie einfordert? „Im Gegenteil“, sagte Ifo-Chef Fuest: „Der Armutsbericht zeigt, dass Arbeitslosigkeit das größte Armutsrisiko ist. Die Agenda 2010 hat dazu beigetragen, dass sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland halbiert hat.“
Und CDU-Mann Fuchs vom Unions-Wirtschaftsflügel betonte: „Die verfügbaren Einkommen steigen kräftig, es gibt substanzielle Rentenerhöhungen. Es wäre gut, wenn auch der Paritätische Wohlfahrtsverband sich einmal positiv dazu äußern könnte.“Stattdessen werde „das alte Lied wachsender Ungerechtigkeit“gesungen. Wer jeden für arm erkläre, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erziele, „wird die Armutsquote nur dadurch senken können, dass er Einheitsgehälter verordnet, vom ungelernten Arbeiter bis zum Facharzt“.