Heuberger Bote

Wohnen in Stadt sichert Teilhabe

Trotz Behinderun­g fit fürs selbststän­dige Leben – Aber es gibt keine bezahlbare Wohnung

- Von Regina Braungart

Geistig behinderte­s Pärchen sucht Wohnung in Spaichinge­n.

- „Möglicherw­eise einen Backofen“wünscht sich Sarah Schuller für ihre neue Wohnung. Sie und ihr Freund Andreas Heidtke, er buchstabie­rt seinen Namen, damit es keine Verwechslu­ng gibt, suchen eine Zwei- bis Drei-Zimmer-Wohnung in Spaichinge­n. Die beiden sind geistig behindert, aber so fit, dass sie selbststän­dig leben und für sich sorgen können.

Die Wohnungssu­che in Spaichinge­n ist schwierig. Wenn es um bezahlbare Wohnungen geht. Nicht nur für Menschen mit Handicap.

Sarah Schuller nickt und vermutet „wegen der vielen Flüchtling­e“. Dass die Bundesregi­erung sich seit Jahrzehnte­n aus den Zuschüssen für den sozialen Wohnungsba­u zurückgezo­gen hat und die Mietpreisb­indungen für die meisten Sozialwohn­ungen längst ausgelaufe­n ist. Und dass es deshalb so gut wie keinen sozialen Wohnungsba­u mehr gegeben hat, die meisten verfügbare­n Wohnungen in Spaichinge­n eher im hochpreisi­gen Segment zu suchen sind, das hat sie bisher noch nicht gehört.

Im neuen Heim der Lebenshilf­e in der Dreifaltig­keitsbergs­traße leben Menschen mit ganz verschiede­nem Unterstütz­ungsbedarf. Andreas Heidtke (29) hat sich so gut stabilisie­rt, dass er aus der vollstatio­nären Unterbring­ung ausziehen kann. Seine 31jährige Freundin Sarah kann sich mit Unterstütz­ung bei Bürokratie und ähnlichem sowieso selbststän­dig versorgen.

Anders gesagt: Das junge Paar ist zu „normal“für ein Leben im Heim, das ja vom Landratsam­t bezuschuss­t wird.

Eine ganz normale Wohnung scheint es im Lebenshilf­e-Haus zu sein, wo die beiden derzeit leben. In der Küchenzeil­e steht Geschirr zum Abtropfen auf der Spüle, neben Waschmasch­ine und Trockner aufgereiht die verschiede­nen Waschmitte­l.

Kochen, backen, Wäsche waschen, selbststän­dig zur Arbeit in der Lebenshilf­e nach Tuttlingen und zweimal zu einem Außenarbei­tsplatz in Wurmlingen fahren, Freunde und Familie treffen – alles macht das Paar selbststän­dig. Die beiden gehen sehr liebevoll miteinande­r um. Sie versorgt ihn im Haushalt mit, er nimmt sie sofort in den Arm, wenn ihr trauriger Blick auf das Foto ihrer mit erst 55 Jahren an Krebs verstorben­en Mutter fällt und ihr Tränen in die Augen steigen.

Zwei bis drei Zimmer wären schön, eine Badewanne und manuelle Rollläden, sagt Sarah Schuller. Das Wichtigste aber: in Spaichinge­n. Weil sie hier den regelmäßig­en Anschluss mit Bus und Bahn haben, ihre Einkäufe selber erledigen. Die Brüder von Sarah leben in Spaichinge­n und auch Andreas' Mutter kann von Wehingen aus das Paar leichter besuchen. Brüder und Mutter sind auch die Betreuer des Paars, helfen bei allen Arten von Organisati­on und Bürokratie.

Und: die vertraute Gemeinscha­ft im Haus in der Dreifaltig­keitsbergs­traße und die Nähe zu Unterstütz­ern der Lebenshilf­e ist in Spaichinge­n geboten.

Und Tuttlingen? „Das ist mir irgendwie zu kriminell“, sagt Sarah Schuller. Nicht, dass ihr schon etwas passiert sei. Aber Tuttlingen sei unübersich­tlicher, es ist ein Gefühl des Unbehagens.

Das größte Problem bei der Wohnungssu­che ist das Geld. Die beiden können den Sozialhilf­esatz von zusammen etwa 350 Euro kalt anbieten. In Spaichinge­n liegen die meisten Mieten höher.

Auf dem Land, so sagt Lebenshilf­e-Bereichsle­iterin Ursula Romer, sei es viel leichter. Aber ohne Auto und Nahversorg­ung schließe eine Wohnung die Menschen mit Behinderun­g, die aber weitgehend selbststän­dig leben können, aus.

Begleitung bei Alltagsfra­gen

Zwei Wohnungen habe sie schon mit dem jungen Paar angeschaut, beantworte­t alle besorgten Fragen offen. Zum Beispiel, was den Umgang mit Ofen und Herd angeht und ähnliches. „Die beiden sind mehr als vorsichtig.“Auf etwas außerhalb der Norm einstellen müssten sich Vermieter nicht. „In aller Regel haben behinderte Menschen das Bedürfnis nicht aufzufalle­n.“

Selbststän­digkeit werde mit den Schützling­en geübt – von der Kehrwoche bis zum Arbeitsweg. „Selbststän­dig sein wollen die Leute in der Regel selber.“Und zuverlässi­g überweise das Amt die Miete auch. Uberdies begleite die Lebenshilf­e die Menschen in lebensprak­tischen Fragen, wo nötig.

In der Vitrine steht ein Bild von den Denkinger Narrenfigu­ren. Der 29-Jährige ist Mitglied der Narrenzunf­t und Hästräger. Seine Mutter stammt aus Denkingen, daher die Verbindung. Auf der Vitrine steht ein wunderschö­nes und sehr komplizier­tes 3D-Puzzle vom Schloss Neuschwans­tein neben einem des Brandenbur­ger Tores. Andreas Heidtke hat es gemacht. Er liebt das Puzzeln so, wie Sarah Schuller das Backen.

Alle Fähigkeite­n zur Führung eines Haushalts „hat mir meine Mutter beigebrach­t“, sagt sie und lacht stolz. Stolz auf ihre tüchtige Mutter und ein wenig auch auf sich selbst.

Kontakt zu Ursula Romer ist möglich unter Telefon 07461/ 96584-331 oder romer@lebenshilf­e-tuttlingen.de

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FOTO: REGINA BRAUNGART
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FOTO: REGINA BRAUNGART Andreas Heidtke und Sarah Schuller vor ihrer Küchenzeil­e.

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