Kontinentaleuropäer als Brexit-Schachfiguren
Nach der Niederlage im Londoner Oberhaus ringt die Regierung von Premierministerin Theresa May um ihr Brexit-Austrittsgesetz. Der für die Gesetzgebung im Unterhaus zuständige Minister David Lidington sprach davon, alle Ergänzungen zu dem Gesetz würden die Verhandlungen mit Brüssel erschweren. Hingegen feierten Oppositionsabgeordnete das Abstimmungsergebnis als Sieg der Vernunft.
Die Regierungsvorlage besteht aus zwei Absätzen und ermächtigt May dazu, den EU-Austritt nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages einzuleiten. Im Unterhaus war das Gesetz in unveränderter Form beschlossen worden. Die zweite Parlamentskammer hatte am Mittwochabend mit 358:256 Stimmen den beiden Absätzen eine Bleibegarantie für die rund drei Millionen Bürger anderer EU-Staaten hinzugefügt. Kommende Woche könnte die Regierung erneut unterliegen. Dann geht es im Oberhaus um das Mitspracherecht des britischen Parlaments über das Ergebnis der Austrittsverhandlungen.
Selbst wenn auch diese Ergänzung verabschiedet wird, dürfte Mays Zeitplan nicht gefährdet sein. Die Opposition im Oberhaus hat angekündigt, sie werde sich nicht querstellen, falls das Unterhaus die Änderungsvorschläge aus der zweiten Kammer ablehnt. In London wird derzeit der 15. März als wahrscheinlichster Termin für die Ankündigung des Austritts gehandelt.
Der Status der rund drei Millionen EU-Bürger ist nominell bisher unverändert. Doch hat die Brexit-Entscheidung bei vielen Bestürzung und zunehmende Unklarheit über die Zukunft ausgelöst. Viele beantragten eine Aufenthaltsgenehmigung, die im Rahmen der Personenfreizügigkeit bisher nicht notwendig war. Allein im dritten Quartal 2016, also in den drei Monaten nach dem Referendum vom 23. Juni, verdreifachte sich die Zahl der Anträge. Die besorgten EU-Bürger stießen auf eine unvorbereitete und personell unterbesetzte Regierungsbürokratie. Falsche und schlampige Entscheidungen des Innenministeriums steigern die Verunsicherung.
85-seitiges Formular
Wer sich den Aufenthaltsstatus garantieren lassen möchte, muss 65 Pfund bezahlen, ein 85-seitiges Formular ausfüllen und dabei jeden Auslands-, auch Urlaubsaufenthalt der vergangenen fünf Jahre auflisten. Die Wartezeit beträgt zwischen vier und sechs Monaten; da viele Dauer-Residenten nur noch den Pass, nicht aber den Personalausweis ihres Heimatlandes besitzen, müssen sie in der Zeit auf Auslandsreisen verzichten. Das vergleichbare Formular in Deutschland hat zwei Seiten und kostet acht Euro, in Irland erhält man die Genehmigung kostenlos.
May hat sich stets zur rechtlichen Absicherung der Betroffenen bekannt, verknüpft aber die Bleibegarantie auf der Insel mit dem Schicksal der rund 1,2 Millionen Briten, die im Rest der EU leben. Harte EU-Feinde im Kabinett wie der Außenhandelsminister Liam Fox haben EU-Ausländer als „wichtige Trumpfkarte“für Verhandlungen bezeichnet.
Auf Schätzungen basierende Erhebungen des nationalen Statistikamtes ONS zufolge stellten 2015 die Polen mit 900 000 Menschen die größte Einwanderergruppe, gefolgt von Iren und Rumänen. Insgesamt gehören 2,8 bis 3,5 Millionen Bürger anderer EU-Staaten zur britischen Gesamtbevölkerung von 65 Millionen Menschen.