Der große Schlummer
Japaner arbeiten exzessiv und versuchen, die fehlende Nachtruhe am Tag nachzuholen
- Kaputt, abgespannt, zerschlagen. Japaner schlafen zu wenig. Man sieht es allerorten. In der Bahn nicken Pendler sofort ein, sinken dem Nachbarn ermattet an die Schulter oder stehen mit geschlossenen Augen erschöpft und ergeben im schlimmsten Gedränge. Im Parlament schlummern Abgeordnete oft kollektiv vor sich hin, Kinder fallen im größten Stadtlärm in den Tiefschlaf und selbst am Arbeitsplatz ist ein sattes Nickerchen salonfähig.
Nippons Töchter und Söhne schlafen immer weniger. Jeder kennt das Problem und trotzdem verschlimmert es sich ständig. Nach einer jüngsten Umfrage gaben mehr als 39 Prozent der Befragten an, sie würden täglich weniger als sechs Stunden Nachtruhe finden. Noch 2007 waren nur gut 28 Prozent unter diesem Limit. Bei den Berufstätigen klagen heute fast 50 Prozent, dass sie wegen der vielen Überstunden nicht ins Bett kommen. Obwohl das japanische Gesundheitsministerium die Lage regelmäßig beobachtet und entsprechend warnt, hat sich der Trend zu „schlaflos in Japan“damit dramatisch ausgeweitet.
Ursache für den nationalen Schlafmangel – sagt der Schlafforscher Kazuo Mishima – „ist ein krasser Fehler des gesellschaftlichen Systems“. Für Mishima sind es die extremen Pendel- und vor allem Arbeitszeiten, die sich rächen. So sehen es auch die meisten befragten Männer: Der überlange Arbeitstag ist das Hauptproblem. Ein derzeit ohnehin brandaktuelles Thema, das in der japanischen Gesellschaft wegen mehrerer Todesfälle infolge von Überarbeitung diskutiert wird. Die Regierung wirbt zwar immer wieder für eine bessere Balance zwischen Arbeit und Freizeit, die meisten Firmen aber wehren sich.
Bei den Frauen sind die Arbeitszeiten ebenfalls ein Problem, aber die Lösung scheint differenzierter. Auf die Frage, wie sie mehr Schlaf finden könnten, meinten viele Japanerinnen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren, dass sie einfach ihr Smartphone am Abend früher weglegen müssten. Die Mütter ab 30 erbitten mehr Hilfe bei der Kindererziehung und im Haushalt – ein Stoßgebet aus alten Zeiten.
Chronisch erschöpft
So wird der chronisch erschöpfte Japaner wohl weiterhin das Stadtbild in Tokio oder Osaka prägen und zwischendurch die vermisste Nachtruhe nachholen. In keinem anderen Land schläft es sich so unbekümmert in der Öffentlichkeit wie in Japan. Wie für beinahe jedes wunderliche Phänomen haben Japaner einen treffenden Begriff. „Inemuri“heißt die weit verbreitete Praxis, am Tag eine Runde zu träumen. Zusammengesetzt aus den Schriftzeichen „i“für da sein und „nemuri“für schlafen, was bedeutet, dass man zwar physisch am Platz ist und trotzdem Ruhe hält – also anwesend sein und trotzdem schlafen.
Weil in Japan frühes Erscheinen und lange Anwesenheit am Arbeitsplatz noch immer als wichtige Tugenden eines guten „Firmenkriegers“gelten, signalisiert das öffentliche Nickerchen gleichzeitig: Man arbeitet bis zum Umfallen, opfert sich für die Firma auf. Je höher ein Japaner auf der Karriereleiter steht, desto demonstrativer darf er im Job schlafen. Dagegen sollten Berufsanfänger die Phasen des Dösens gut dosieren, bis sie sich das Recht auf ein Nickerchen verdient haben.
Im fernöstlichen Inselreich besitzt die Kultur des öffentlichen Schlafs eine lange Tradition. Die Samurais hielten im Halbschlaf Wache, und der Zen-Buddhismus vertritt die Lehre, dass der Schlaf dem Meditieren geopfert werden kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von der Nation amtlich verlangt, die Nachtruhe der Aufbau- und Arbeitswut zu opfern.
Der systematische Schlafentzug macht auch vor den Kleinsten nicht Halt. Laut Statistik geht ein Drittel der Kinder unter vier Jahren nicht vor 22 Uhr zu Bett. Sport, Nachhilfepauken, aber auch Internetspiele und Fernsehen gelten als vorrangig. Nippons Schüler, die abends auch nicht so strikt wie anderswo auf die Futons geschickt werden, lernen den Minutenschlaf schon in der Schule, in die sie ein Handtuch für den Schulbankschlummer mitnehmen.
Abgesegnete Schläfchen
Mediziner warnen, kein Nickerchen könne chronischen Schlafmangel ausgleichen. Schlechte Konzentration bei der Industriearbeit oder auch im Straßenverkehr seien ein permanentes Risiko für die Gesellschaft. Aber generell segnen auch sie ein kurzes Schläfchen zur Mittagszeit ab. Professor Tadao Hori von der Hiroshima-Universität rät zu jeweils 15-Minuten-Rhythmen, um die nächsten zwei bis drei Stunden fit und munter zu sein.
Der kurze „Nap“ist längst auch ein Geschäft geworden. Kommerzielle Studios wie der „Good Sleep Salon Napia“in Tokios Büroviertel Nihonbashi bieten Schlafkabinen für das Nickerchen, in Warenhäusern finden ermattete Büroblumen und Verwaltungssamurais eine große Auswahl an Schlaf-Accessoires von Augenmasken, Entspannungsdüften über Ohrstöpsel bis hin zu speziellen Kissen, die auf den Schreibtisch gelegt werden können. Firmen richten sogar Ruheräume mit Sofas ein. Nur hochgelegte Beine und lautes Schnarchen bleiben verpönt.