Heuberger Bote

Mit letzter Kraft zum Gipfelkreu­z

Das Sellrain-Tal ist eine Hochburg der Skitoureng­eher und setzt auf sanften Tourismus

- Von Uwe Jauß

etzt musst du dich durchbeiße­n! Immer wieder schießt dieser Gedanke durch den Kopf – eine Erinnerung an die Jugend im Fußballver­ein vor vielen Jahren. „Beißen“, sagte der Trainer. Jetzt geht es aber nicht um den Weg zum Tor, sondern um das Aufsteigen zu einem 2875 Meter hohen Gipfel mithilfe der Tourenski. Der Berg heißt Lampsenspi­tze und steht in einer Verzweigun­g des tiefeinges­chnittenen Sellrain-Tals unweit der Tiroler Hauptstadt Innsbruck. Stunden ist es her, dass die Steigfelle aufgezogen wurden. Die Oberschenk­el schmerzen, erste Muskeln verkrampfe­n sich, eisiger Wind peitscht ins Gesicht. Doch der Gipfel ist greifbar nahe, die Selbstmoti­vation besagt: Keine Umkehr, ohne ganz oben gewesen zu sein – das ist man sich schuldig, selbst als Gelegenhei­ts-Tourengehe­r.

Ein Schneeloch

Vom Prinzip her gilt ja die Route zur Lampsenspi­tze als einfach. Im Sellrain-Tal lassen sich ganz andere Touren-Herausford­erungen finden – gleich einige Dutzend davon. Zusammen mit dem Ruf, ein Schneeloch zu sein, ist dies der Grund für das Image des Tals als Hochburg für diese schweißtre­ibende Sportart. „Da brauchst du doch nur mal rüberzusch­auen zum Lüsener Fernerkoge­l. Die dortige Tour ist eine wirkliche Herausford­erung“, sagt Skiguide Dieter Lutz.

Man glaubt es gerne: Am südlichen Horizont steht ein Klotz wie das Matterhorn, 3298 Meter hoch – bei entspreche­nder Schneelage weitaus lawinengef­ährdeter als etwa die Lampsenspi­tze. Selbst die Abfahrt vom Lüsener Fernerkoge­l ist kitzlig: „Sehr steil. Stürzen sollte man nicht. Das könnte ins Unglück führen.“Dies lässt zumindest den Respekt vor jenen ansteigen, die sich dort hochkämpfe­n. „Üblicherwe­ise jedoch erst ab März, wenn die eigentlich­e Saison für Hochtouren beginnt“, erklärt Lutz.

Für den Moment trägt er aber nur Sorge, dass es zur Lampsenspi­tze weitergeht. „Komm, das packst du. Gleich sind wir oben“, treibt er an. Das stimmt. Die meisten der 1200 Höhenmeter, die zwischen dem Ausgangspu­nkt in dem kleinen Weiler Praxmar und dem Gipfelkreu­z liegen, sind geschafft. Die letzte Lehrtafel entlang der Route ist in Sicht. Diese Schilder geben Tipps fürs richtige Tourengehe­n. Der Tourismusv­erband hat sie aufgestell­t. Es geht um vieles: die Nutzung des Lawinenpie­psers, Messung der Hangneigun­g, Schneebesc­haffenheit, Routenwahl – alles, was zur Sicherheit beiträgt, oder bei einem Unglück eine Rettung erleichter­t.

Falsch wäre es jedoch, die Möglichkei­ten des Tals auf das Anschnalle­n von Steigfelle­n zu reduzieren. Winters lässt sich beispielsw­eise unweit von Praxmar an gefrorenen Wasserfäll­en Eiskletter­n. Langlauf, Winterwand­ern und Rodeln sind möglich. Und am Ende des Haupttals gibt es ein klassische­s Skigebiet: Kühtai. Der seltsame Name dürfte dem einen oder anderen bereits aufgefalle­n sein – auch wenn er noch nicht vor Ort war. Kühtai wirbt vor allem um Familien. Die Pisten bieten knapp 42 Abfahrtski­lometer. In diesem überschaub­aren Rahmen wollen die meisten örtlichen Verantwort­lichen auch bleiben. „Eigentlich soll sich das Tal nicht weiter verändern“, erklärt Susanne Klaunzer, Leiterin des Tourismusb­üros.

Als abschrecke­ndes Beispiel gilt Ischgl im Tiroler Paznauntal, eine der großen Partydesti­nationen in den winterlich­en Alpen. „Ballermann im Schnee“, sagen Spötter. Klaunzer sieht das Sellrain-Tal als Gegenentwu­rf: natürlich, unaufgereg­t – ein Ort, an dem man auch die Seele baumeln lassen kann, sollte es einen mal nicht auf die Berge treiben.

Dieser Idylle-Eindruck entsteht bereits bei der Fahrt hinein ins Tal. Innsbruck mit seinem ganzen Angebot an Kultur, Gastronomi­e oder Einkaufsge­legenheite­n liegt da nur wenige Minuten hinter einem. Aber schon ist man in einer anderen Welt. Mächtige Felswände bedrängen die Straße, bevor sich das Tal weitet. Die drei Gemeinden im Tal haben sich noch ländlichen Charakter bewahrt – ein zentraler Grund, weshalb die Sellrainer Gemeinden den Ehrentitel „Bergsteige­rdörfer“tragen dürfen. Er wird vom österreich­ischen Alpenverei­n und vom Agrar- und Umweltmini­sterium verliehen.

Es fällt im Tal auch gleich ins Auge, dass monumental­e Touristenb­unker fehlen. Eine winterlich­e Totalersch­ließung wie im bereits erwähnten Ischgl hat es nie gegeben. Der Gast findet dafür heimelige Pensionen. Es gibt aber ebenso einige zeitgenöss­ische Sporthotel­s. Sie fügen sich jedoch in ihr Umfeld ein. Womöglich stößt man bei der Quartierwa­hl auch auf eines der familiär geführten Hotels. Sie wirken oft wie ehrwürdige Landwirtsh­äuser mit Zimmerverm­ietung. Ein solches Quartier lässt sich am Ausgangspu­nkt für die Tour zu Lampsenspi­tze finden: der traditions­reiche Alpengasth­of Praxmar. In der Wirtsstube sitzen abends gerne jene, die von den Bergen zurückgeko­mmen sind: winters Tourengehe­r, sommers Bergsteige­r. Es wird gefachsimp­elt. Zur kalten Jahreszeit geht es um „neue Steigfelle, die viel besser als die alten sind“. Oder um das Risiko „bei dieser Schneelage“eine gewisse Tour bewältigen zu können.

Tourismus soll sich anpassen

Später kommt dann immer mal wieder Wirt Alois Melmer dazu – aber erst, wenn er mit dem Milchvieh im Stall fertig ist. Er ist ein Kind des Tals, Bauer, Jäger, Hotelier, Bergwachtl­er, ein Mensch, der hier jeden Gipfel kennt. „Ich möchte nirgendwo anders daheim sein“, sagt Melmer. Sein Standpunkt: Land und Leute sollen ihren Charakter behalten. Der Tourismus müsse sich dem Tal anpassen – und nicht umgekehrt. Über dieses Thema lässt sich mit ihm bei einem Glas Wein lange philosophi­eren. Irgendwann will Melmer von seinem Gast dann doch noch wissen, wie eigentlich der Tag war. „Bist du bis zur Lampsenspi­tze gekommen?“fragt er. „Ja, mit allerletzt­er Kraft“, lautet die Antwort.

Rund 100 Meter unterhalb des Gipfels mussten nämlich die Ski abgeschnal­lt werden. Oben hatte der scharfe Wind den meisten Schnee weggeweht. Es hieß, sich auf einem vereisten Steig weiterzusc­hleppen. Nebelschwa­den trieben um den Berg. Ein schnelles Abklatsche­n am Gipfelkreu­z, ein Händedruck mit Skiguide Lutz. Dann meinte er: „Schauen wir, dass wir wieder runterkomm­en.“Bei besserer Sicht wäre es eine traumhafte Tiefschnee­abfahrt gewesen. Aber egal: Unten hat sich schließlic­h ein stolzes Geschafft-Gefühl breitgemac­ht – bei einem selber angesichts der eigenen Leistung, beim Skiguide, weil er seinen Gast doch noch ans Gipfelkreu­z gebracht hat.

Weitere Informatio­nen beim Tourismusb­üro Gries, das auch die Recherche unterstütz­t hat: Tel.

0043/5236-224, E-Mail: gries@innsbruck.info, Internet: www.innsbruck.info/gries, www.sellrain.at

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FOTO: LUKAS RUETZ Der Aufstieg zur Lampsenspi­tze kann bei strahlende­m Sonnensche­in zum Genuss werden, bei schlechtem Wetter aber auch zu einer Quälerei.

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