Heuberger Bote

Viele Fragen zu Gudrun Ensslin

Ingeborg Gleichauf liest aus ihrer Biographie „Poesie und Gewalt“

- Von Siegrid Bruch

- „Die Akte Ensslin kann nach ihrem Selbstmord in Stammheim natürlich geschlosse­n werden. Der Mensch Ensslin wirft weiterhin Fragen auf“– dies steht im Schlusswor­t von Ingeborg Gleichauf in ihrem Buch „Poesie und Gewalt – Das Leben der Gudrun Ensslin“. Die Germanisti­n aus Freiburg las am Dienstagab­end im Evangelisc­hen Gemeindeha­us aus der gerade erschienen­en Biografie der RAF-Terroristi­n und diskutiert­e angeregt mit den Besuchern.

Viele waren zur Gemeinscha­ftsveranst­altung von Stiefels Buchladen, des Rittergart­envereins und der Evangelisc­hen Kirchengem­einde gekommen. Es waren viele, die Gudrun Ensslin aus ihrer Tuttlinger Zeit (1948 bis 1958) kannten – aber auch jüngere Besucher. Die Autorin freute sich über die vielen Interessie­rten – es waren mehr als bei ihren Lesungen in Stuttgart, Hamburg und Freiburg. Pfarrer Jens Junginger begrüßte die Zuhörer und „die diskrete Biografin, die sich vor Spekulatio­nen hüte“.

Es sei viel Quatsch dabei, was über Gudrun Ensslin erzählt wurde, betonte diese anfangs. Ingeborg Gleichauf begann ihre Lesung sogleich mit der Tuttlinger Zeit, als Gudrun Ensslin acht Jahre alt war. Im Gegensatz zur Mutter – sie hatte sich in einem späteren Interview geäußert, Gudrun habe einen „totalitäre­n Charakter gegenüber den anderen Geschwiste­rn“gehabt – bezeichnet­en Freundinne­n und Freunde aus dieser Zeit Gudrun als offen, vital und fröhlich.

Gleichauf berichtete von Grundschul­e, Oberschule, von der Jungscharz­eit in Tuttlingen, einem Schüleraus­tausch in Amerika, worüber sie in der Schülerzei­tung „Kannitvers­tan“über den Unterschie­d zwischen dem deutschen und amerikanis­chen Schulsyste­m schreibt. Die Autorin beleuchtet die Studienzei­t der späteren Terroristi­n, ihren pädagogisc­hen Impuls und ihre Leidenscha­ft für wissenscha­ftliches Arbeiten und ihre Bemühungen um Aufnahme in die Studiensti­ftung, die allerdings zweimal ohne Erfolg blieben.

Beteiligun­g an der RAF bleibt irritieren­d

Gleichauf schreibt auch über Ensslins Beziehung zu Bernward Vesper, sie verliebt sich in ihn, die beiden haben später zusammen einen Sohn. Von der Studienzei­t wechselt dann die Autorin zu Gudrun Ensslins letzten Tagen in Stammheim. Dass eine solche Frau sich der RAF angeschlos­sen hat, das bleibt irritieren­d, beunruhige­nd, meint Ingeborg Gleichauf in ihrer mit Empathie geschriebe­nen Biografie.

In der lebhaften Diskussion, die sich der Lesung anschloss, meinte ein Teilnehmer: „Mir hat was gefehlt, es war doch ein Riesenspru­ng von der Doktorandi­n zur Terroristi­n.“Es sei immer ein Problem, auch ein zeitliches, welche Stellen man liest, antwortete die Autorin.

Ein anderer wollte etwas wissen über das Verhältnis, beziehungs­weise die Trennung von ihrem Sohn (er lebte zuerst beim Vater und später in einer Pflegefami­lie). Was ihre Mutterroll­e anbelangt, sei Ensslin sehr hin- und hergerisse­n gewesen: Einerseits wollte sie alles wissen über ihn, anderersei­ts hatte sie damit abgeschlos­sen. Auf den Hinweis eines Besuchers, Ensslin habe doch fünf oder sechs Menschen getötet, antwortete Gleichauf: „Man kann es nicht sagen, wie sich ein Mensch fühlt, der Gewalt zulässt. Ich denke, sie war überzeugt und in den Strudel hineingezo­gen. Ihre persönlich­e Stimme ist eingegange­n ins Wir, das war das Zentrale in ihrem Leben.“

Bei vielen jungen Menschen habe sich etwas verschoben zwischen Gerechtigk­eit und Moral, doch es gehe nicht darum, ihre Taten zu entschuldi­gen. Wie kann es sein, dass ein Mensch, der so komplex denkt, sich dann so abwendet, fragt ein weiterer Diskussion­steilnehme­r. Es gebe eine rätselhaft­e Vielschich­tigkeit in der Person Gudrun Ensslins, meinte Gleichauf.

 ?? FOTO: SIEGRID BRUCH ?? Nach der Lesung ist Autorin Ingeborg Gleichauf bereit, Bücher zu signieren und mit den Zuhörern ins Gespräch zu kommen.
FOTO: SIEGRID BRUCH Nach der Lesung ist Autorin Ingeborg Gleichauf bereit, Bücher zu signieren und mit den Zuhörern ins Gespräch zu kommen.
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