Vom Großvater das Lügen gelernt
Rafik Schami erzählt in der Angerhalle von seiner Kindheit in Damaskus
- Rafik Schami ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Vor rund 250 Gästen hat der „Meister der Erzählkunst“am Dienstagabend in der Angerhalle das Syrien seiner Kindheit wieder aufleben lassen.
Anstelle des heutigen Kriegsschauplatzes Syrien entfaltet sich vor dem inneren Auge der Zuhörer eine morgenländische Märchenkulisse als Ort der Geborgenheit, während Schami eine Stunde lang frei erzählt, wie er im christlich-aramäischen Viertel im Damaskus der 1950er Jahre aufgewachsen ist. Die Sippe halte eng zusammen, das sei eine der Überlebensstrategien, die sich in der lebensfeindlichen Wüste seit Generationen bewährt hätten.
In kühlen Innenhöfen mit Springbrunnen spielt sich in der 40 Grad heißen Stadt das Familienleben ab. Doch einmal im Monat kommt der geliebte Großvater zu Besuch und hebelt verschmitzt die Familienhierarchien aus. Er versorgt die drei Kinder mit Süßigkeiten, wo doch ihr streng katholischer Vater, ein erfolgreicher Bäcker, sonst ausschließlich auf gesunde Ernährung bedacht ist.
Aber das Beste: Der Großvater erzählt spätabends heimlich immer die allerspannendsten Geschichten – vom gefährlichen Kampf mit einer Dschinn auf dem Weg zu den Enkeln, oder vom sogenannten „Anis-Sieber“. Der arbeitet viel, zu viel und wird beim Sieben des kostbaren Gewürzes immer kleiner, bis er eines Tages selbst durchs Sieb in den großen Gewürzsack fällt.
Auch Schami hat die lange orientalische Tradition der mündlichen Erzählkunst kultiviert: „In der Wüste ruht das Auge, und man erzählt von Wasserfällen und prächtigen Gärten, um der Einöde zu entfliehen.“Sein Großvater war Schamis Vorbild: „ Er war ein großartiger Erzähler. Von ihm habe ich gelernt, wie man anständig lügt.“Der Wahrheitsgehalt einer Geschichte ist keine Kategorie, auch nicht für das gebannt zuhörende Publikum an diesem Abend. Atmosphärische Schilderungen von Damaskus mit den engen Gassen mit Gewürzduft-Wolken fügen sich nahtlos zu einem Ganzen mit fantastischen Episoden des Großvaters oder der Geschichtenerzähler, denen in Erzählcafés bis zu 200 Männer an den Lippen hingen.
Nach kurzer Anlaufzeit bewegt Schami sich fast nur noch direkt am Bühnenrand, möglichst nah bei den Zuhörern, unterstreicht das Gesagte mit Gesten, doch nie um der Show willen. Immer bleibt die Geschichte im Vordergrund, nicht der Erzähler. Erzählstränge beginnen sich zu verzweigen, lassen einen unerschöpflichen Fundus an weiterem Material erahnen, fordern Schamis Konzentration, um sich nicht zu verselbständigen. „Doch das ist eine andere Geschichte“, vernehmen die Zuhörer mehrfach an diesem Abend. Jede weitere hätten sie liebend gerne auch noch gehört. Doch nach einer Stunde war Schluss. Mit begeistertem Applaus entließen die Gäste den Erzähler.
Werke vielfach ausgezeichnet
Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren. 1971 kam er nach Deutschland. 1979 schloss er sein Chemie-Studium in Heidelberg mit der Promotion ab. Seit 1982 arbeitet er als freier Schriftsteller. Seine Werke wurden in 30 Sprachen übersetzt. Sowohl seine Erwachsenen- als auch seine Jugendbücher sind vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis und dem Hermann-HessePreis.