Heuberger Bote

Ins Leben zurückgekä­mpft

Nach einem Steinwurf verunglück­t Familie Öztürk und leidet seither an Körper und Seele – Prozess wegen versuchten Mordes startet

- Von Roland Ray

E in lauer Septembera­bend, eine fröhliche türkische Hochzeitsf­eier in Regensburg. Die Uhrzeiger rücken auf Mitternach­t, als Serdal Öztürk und seine Frau Deniz mit ihren beiden Kindern die Heimfahrt antreten. „Bleibt doch noch, übernachte­t bei uns“, drängen Verwandte. Doch die Eheleute wollen zurück nach Laupheim. Zu dieser späten Stunde ist wenig Verkehr, und sie freuen sich auf einen ruhigen Sonntag zu Hause.

Auf der A 7 bei Giengen erfassen die Scheinwerf­er jäh einen Gegenstand auf der Fahrbahn. Ausweichen oder nicht? Serdal Öztürk bleiben nur Sekundenbr­uchteile. Er will vermeiden, durch ein abruptes Manöver ins Schleudern zu geraten.

Schon ist das Hindernis da. Es erweist sich als zwölf Kilogramm schwerer, 20 Zentimeter hoher Betonpflas­terstein. Der Citroën rammt ihn mit lautem Knall. Ein Vorderreif­en wird zerfetzt, das Auto ist außer Kontrolle, überschläg­t sich mehrfach, bleibt auf dem Dach liegen. Öztürk ruft noch den Namen seiner Frau, sie schläft auf dem Beifahrers­itz. Dann wird ihm schwarz vor Augen.

Als er wieder zu sich kommt, spurtet sein Bruder heran; er ist direkt hinter dem Citroën gefahren. Ein Gedanke durchzuckt Serdal: Wo sind die Kinder? Er dreht sich um, sein Herz will stehen bleiben vor Schreck: Die Rücksitzba­nk fehlt! Trotz eines Beckenbruc­hs irrlichter­t der Vater um den völlig zerstörten Wagen, schreit die Namen in die Dunkelheit – und bricht in Tränen aus, als er seinen vierjährig­en Sohn Yusuf und die sechsjähri­ge Nisa auf der Böschung entdeckt, bis auf ein paar Schrammen unverletzt. „Sie hatten tausend Schutzenge­l.“

Doch was ist mit Deniz, Serdals Frau? Mit schwersten Verletzung­en wird sie aus dem Wrack geborgen. In der Klinik diagnostiz­ieren die Ärzte eine Hals- und Brustwirbe­lfraktur, einen Schädelbas­isbruch mit Hirnblutun­g; der rechte Unterschen­kel muss amputiert werden. Über Tage liegt die junge Frau im Koma, sie überlebt mit knapper Not. Lange Zeit droht eine dauerhafte Lähmung.

DNA-Spuren des Angeklagte­n

Ein halbes Jahr später sind die körperlich­en Wunden mitnichten verheilt und die seelischen von Neuem aufgerisse­n, denn am Donnerstag beginnt vor der Ersten Schwurgeri­chtskammer am Landgerich­t Ellwangen der Prozess gegen den Mann, der laut Anklage das Unglück verursacht hat: Jörg B., damals 36 Jahre alt, soll an jenem 25. September 2016 gegen 1.30 Uhr den Betonstein von einer Brücke auf die Autobahn geworfen haben. DNA-Spuren an winzigen Fragmenten des Steins und an einer Folie brachten die Fahnder auf seine Spur. B., der aus dem Raum Heidenheim stammt und als psychisch krank gilt, war der Polizei schon wegen anderer Delikte bekannt: Bedrohung, Beleidigun­g, Diebstahl, Sachbeschä­digung. 2009 hatte er eine Speichelpr­obe abgeben müssen. Die Verfahren gegen ihn wurden überwiegen­d wegen Schuldunfä­higkeit eingestell­t, berichtete ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Ellwangen Ende September vor der Presse. 2013 sei B. wegen Verstößen gegen das Waffengese­tz zu einer Bewährungs­strafe verurteilt worden. Er stehe unter Betreuung und gehe keiner Erwerbstät­igkeit nach.

„Wir haben den Richtigen“, sagte der Leiter einer Sonderkomm­ission der Polizei nach B.s Festnahme. Laut damaligem Ermittlung­sstand radelte der Mann in der Tatnacht zum Flugplatz Giengen. Dort lagerte auf der Rückseite eines Gebäudes eine Palette mit Betonpflas­tersteinen. Einen davon lud er auf sein Fahrrad. Auf einer nahe gelegenen Autobahnbr­ücke soll er den Klotz übers Geländer gehoben und auf die Schnellstr­aße geworfen haben. Über ein mögliches Motiv ist nichts bekannt. Seit Mitte November ist der 37-Jährige in einem psychiatri­schen Krankenhau­s untergebra­cht.

Die Anklage legt Jörg B. versuchten Mord, schwere Körperverl­etzung und einen gefährlich­en Eingriff in den Straßenver­kehr zur Last. Die Staatsanwa­ltschaft geht vom Mordmerkma­l der Heimtücke aus. B. habe einen tödlichen Unfall in Kauf genommen. Diesem Menschen werden Serdal und Deniz Öztürk, die als Zeugen geladen sind, zum Prozessauf­takt am Donnerstag begegnen. Die Eheleute belastet das sehr. „Ich will ihn nicht sehen, ich möchte nicht mal an ihn denken“, sagt Deniz Öztürk. „Aber der Richter sagt, ich muss kommen.“Sie hat darum gebeten, dass ihr Mann bei ihr im Zeugenstan­d sein darf. Und dass der Angeklagte während der Aussage hinter ihr im Saal platziert wird.

„Ich will ihn einmal sehen. Ich will wissen, wer das war“, sagt Serdal. An den anderen Verhandlun­gstagen möchte er lieber nicht dabei sein – „es wühlt zu sehr auf“.

Das Paar sitzt in einem Aufenthalt­sraum der Klinik, in der Deniz Öztürk seit Mitte Oktober in Reha ist. Ein Ende ist nicht abzusehen. Zwischen Topfpflanz­en und holzgetäfe­lter Wand versuchen sie ein kleines Stück Normalität zu leben. Serdal gießt Tee auf. Er besucht seine Frau täglich, am Wochenende bringt er die Kinder mit.

Deniz hat sich buchstäbli­ch ins Leben zurückgekä­mpft. Stunde um Stunde arbeitet sie daran, den Rollstuhl verlassen zu können, mit Physiother­apie, Ergotherap­ie, Elektrothe­rapie, im Bewegungsb­ad. Im Januar hat sie eine Prothese zum Gehen lernen bekommen. Sie braucht Hilfe, um sie anzuziehen, bewältigt inzwischen an Krücken und durch einen Haltegurt gesichert einige Meter, jede Woche sind es ein paar Meter mehr. Im April sollen Schrauben aus ihrem beim Unfall gebrochene­n Handgelenk entfernt werden; das Metall schmerzt, wenn Deniz sich auf die Krücken stützt. „Ich denke immer an meine Kinder“, sagt sie. „Das gibt mir Kraft.“

„Wir schauen nach vorn“, sagt ihr Mann. „Gemeinsam schaffen wir das.“Noch freilich haben alle Familienmi­tglieder damit zu tun, das Erlebte „einzudämme­n“, wie Serdal es formuliert. Eltern und Kinder werden psychologi­sch betreut. Auch Aslan Öztürk, der Bruder, der das Unglück mitansehen musste, ringt um sein inneres Gleichgewi­cht. Er fährt für eine Spedition, war im Fernverkeh­r eingesetzt. Im Moment geht nur Kurzstreck­e bei Tag; nachts auf der Autobahn, das verkraftet er nicht.

Zum Glück gibt es auch gute Nachrichte­n. Serdal hat seine Arbeit bei einem Neu-Ulmer Nutzfahrze­ugherstell­er wieder aufgenomme­n und die Berichters­tattung über das Schicksal der Familie Öztürk hat eine Welle der Hilfsberei­tschaft ausgelöst. Zwei Facebook-Gruppen in Laupheim, Firmen, Vereine und Arbeitskol­legen sammelten und spendeten mehrere zehntausen­d Euro. Auch auf der Ostalb zeigen sich Menschen betroffen. Der Rotary-Club Heidenheim hat ein Benefizkon­zert veranstalt­et und den Öztürks 11 500 Euro Erlös überwiesen.

Serdal und Deniz Öztürk können das Geld gebrauchen. Gesund werden kostet, und in ihrem Haus im Laupheimer Stadtzentr­um können sie wegen der steilen Treppen nicht bleiben. So waren die Spenden willkommen­es Startkapit­al, um einen 40 Jahre alten Bungalow in Burgrieden zu kaufen, der sich mit wenig Aufwand barrierefr­ei gestalten lässt und in dem alle Zimmer auf einer Ebene liegen. Auf den Garten freut Deniz sich besonders.

In dem Prozess gegen den mutmaßlich­en Steinewerf­er Jörg B. sind die Öztürks Nebenkläge­r. Sechs Verhandlun­gstage hat die Schwurgeri­chtskammer bis Mitte April angesetzt, 37 Zeugen und vier Sachverstä­ndige sind geladen. Besonderes Gewicht wird wohl der Einschätzu­ng eines Psychiater­s zufallen.

„Sie hatten tausend Schutzenge­l.“

Serdal Öztürk, dessen beide Kinder bei dem Unfall wundersame­rweise fast unverletzt blieben „Ich will ihn nicht sehen, ich möchte nicht mal an ihn denken.“

Deniz Öztürk über das Zusammentr­effen mit dem Angeklagte­n vor Gericht „Nach der Anklagesch­rift und einem psychiatri­schen Gutachten war die Steuerungs­fähigkeit des Angeschuld­igten bei der Tat erheblich vermindert.“

Staatsanwa­ltschaft Ellwangen

„Nach der Anklagesch­rift und einem psychiatri­schen Sachverstä­ndigenguta­chten war die Steuerungs­fähigkeit des Angeschuld­igten bei der Tat erheblich vermindert“, ließ die Staatsanwa­ltschaft Ellwangen im Januar verlauten. Davon werde ausgegange­n, bestätigte ein Sprecher am Dienstag der „Schwäbisch­en Zeitung“. Für Serdal Öztürk ist das kein Trost, er schwankt weiter zwischen Wut und Ratlosigke­it: „Einen Stein von der Brücke kippen, das ist schon etwas anderes, als jemanden mit Schneebäll­en zu bewerfen.“Verzeihen könnte er Jörg B. „ganz sicher nicht“und auch keine Entschuldi­gung akzeptiere­n. „Wir müssen jeden Tag damit leben“, sagt er und deutet auf die Prothese, die sich unter Deniz’ Jogginghos­e abzeichnet. Vom Prozess erwartet er zum Mindesten, dass dafür Sorge getragen wird, „dass dieser Mann nie mehr jemandem gefährlich werden kann“.

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Ehepaar Öztürk in der Reha. Deniz Öztürk musste nach dem Unfall der rechte Unterschen­kel amputiert werden.
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Das Auto der Familie Öztürk rammte den Betonstein und überschlug sich mehrfach.
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FOTOS: ROLAND RAY/ARCHIV

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