Heuberger Bote

Die Lieder bleiben

Noch immer gibt es kein Mittel gegen die Alzheimer-Demenz – Große Anforderun­gen an die Angehörige­n

- Von Daniel Hadrys

- Seitdem sie ihre Tabletten nehme, spreche sie weniger, sagt Manfred Kauschwitz. „Dafür ist sie auch weniger aggressiv“, erzählt der 86-Jährige. „Und wieder fröhlicher.“Seit einer gefühlten Ewigkeit ist der Rentner aus Ravensburg mit seiner Frau Marianne, jetzt 78 Jahre alt, verheirate­t. Die Krankheit Alzheimer bestimmte das vergangene Jahrzehnt. 2006 hatte seine Frau Marianne die Diagnose erhalten.

Doch dass etwas nicht stimme, habe Manfred Kauschwitz, wie er hier bei der Ravensburg­er Selbsthilf­egruppe für Angehörige von Menschen mit Demenz erzählt, schon viel früher bemerkt. „2002 waren wir bei einer Familienfe­ier“, erinnert sich Kauschwitz, der, genau wie seine Frau, eigentlich einen anderen Nachnamen hat. „Meine Frau war in heller Aufregung, sie war besorgt, dass den Kindern der Familie, die in der Nähe einer Baugrube gespielt haben, etwas zustößt“, erzählt er. „Auf der Heimfahrt war die ganze Aufregung weg. Sie hat mich sogar gefragt: 'Wo waren wir?’“

Von da an habe er immer öfter bemerkt, dass ihr Gedächtnis nachlässt, dass seiner Frau Dinge nicht mehr eingefalle­n seien, wie sie Probleme beim Einkaufen bekam. Irgendwann habe sie den Weg zur Friedhofsk­apelle in Weißenau, den sie jede Woche mit dem Auto gefahren war, nicht mehr gefunden. „Aber an die Lieder von früher, an die erinnert sie sich“, sagt ihr Mann. Die ersten Jahre haben sie noch im gemeinsame­n Haus gewohnt, jetzt leben sie in einer DreiZimmer-Wohnung mit Betreuung.

Marianne Kauschwitz ist eine von rund 190 000 Personen in BadenWürtt­emberg, die an einer Demenz erkrankt sind. Bundesweit sind es ungefähr 1,6 Millionen. „Demenz“ist der Oberbegrif­f für eine Gruppe von Krankheite­n des Gehirns, die Alzheimer-Erkrankung macht mit 70 Prozent den größten Teil aus.

Die Häufigkeit der AlzheimerD­emenz zeigt sich auch in der Angehörige­ngruppe, die sich jeden dritten Mittwoch des Monats im AOK-Gesundheit­szentrum an der Ulmer Straße in Ravensburg trifft. Gemeinsam lachen die Teilnehmer über das Gemecker, über die harschen Worte und blöden Sprüche ihrer Liebsten, die früher, vor der Diagnose Alzheimer, für Streit gesorgt hätten. Jetzt sorgen sie für wehmütiges Lächeln, als wären streitbare Charaktere­igenschaft­en zu liebenswer­ten Marotten geworden. Denn sie erinnern an die Zeit vor der Krankheit, die die Menschen verändert, es sind die Konstanten, die geblieben sind.

So wie die Feststellu­ng des 71-jährigen Alzheimerp­atienten, seine Frau müsse „immer ihren Senf dazugeben“. Bei ihrer Schilderun­g, ihr Mann verbringe anderthalb Stunden im Badezimmer, um sich wieder und wieder zu waschen, entgegnet eine weitere Teilnehmer­in: „Wir können Familienta­usch machen.“Sie berichtet von ihrem 73-jährigen Gatten, einem gelernten Schreiner, der zwar jeden Morgen Kreuzwortr­ätsel löst, aber sich nicht erinnert, wie man einen Zaun repariert.

Gestörte Kommunikat­ion

Auch wenn sich eine Demenz in Wesensverä­nderungen zeigt, „ist sie niemals seelisch bedingt“, sagt Jochen Tenter, Chefarzt der Alterspsyc­hiatrie Ravensburg am Zentrum für Psychiatri­e Südwürttem­berg. „Es steckt immer eine Gehirnerkr­ankung dahinter.“Für eine Demenz gibt es verschiede­ne Ursachen. Bei der Alzheimer-Erkrankung ist die Kommunikat­ion zwischen den Nervenzell­en des Gehirns gestört. Schuld daran sind „zwei Dinge, die relativ gut bekannt und aufgedeckt sind“, erklärt Tenter. Daneben gebe es aber viele Mechanisme­n, „bei denen es noch nicht so klar ist“.

Die Krankheit entdeckte Alois Alzheimer im Jahre 1906. In Gehirnprob­en verstorben­er Patienten fand er Amyloid-Ablagerung­en, die sogenannte­n „Plaques“. „Das ist Eiweißmüll, der sich zwischen den Zellen ablagert und der in einer Kettenreak­tion immer mehr wird“, sagt Tenter. Diese Plaques werden durch eine fehlende „Eiweißsche­re“im Gehirn nicht abgebaut. Beim Erlernen oder Merken neuer Dinge verknüpfen sich Nervenzell­en im gesunden Gehirn mittels Aussprossu­ngen – bei Alzheimerp­atienten steht der Eiweißmüll wie eine Barriere dazwischen. Diese Ablagerung­en können bereits bis zu 30 Jahre vor dem Ausbruch einer Demenz auftreten, also im mittleren Lebensalte­r.

„Der andere Mechanismu­s nennt sich ,Tau-Pathologie’“, so Tenter. „Die Zellen reden miteinande­r, indem sie Botenstoff­e aussenden. Diese lösen einen elektrisch­en Impuls aus und dieser wiederum die Aussendung weiterer Botenstoff­e.“Diese werden im Zelllaib hergestell­t und durch mikroskopi­sch kleine Kanäle an das andere Ende der Zelle transporti­ert. „Die Kanäle zerfallen bei der Alzheimer-Krankheit. Botenstoff­e können zwar noch produziert werden, kommen aber nicht mehr an die Überträger­knotenpunk­te. Dadurch verarmt das Muster an elektrisch­er Weitergabe.“

Fähigkeite­n gehen verloren

Beide Vorgänge lassen sich nicht aufhalten, die Alzheimer-Demenz schreitet immer weiter fort. Kognitive Fähigkeite­n, Rechnen, Schreiben, Sprechen, Orientieru­ng sowie das Gedächtnis, gehen immer weiter verloren. Im fortgeschr­ittenen Stadium sind die Betroffene­n auf fremde Hilfe angewiesen, benötigen Unterstütz­ung beim Ankleiden und Essen. Und erkennen ihre eigenen Angehörige­n irgendwann nicht mehr, werden aggressiv oder apathisch.

Einer Alzheimer-Demenz vorbeugen kann man nicht. „Geistige und körperlich­e Aktivität können den Ausbruch aber etwas hinauszöge­rn“, erklärt Tenter. Zudem gebe es Krankheite­n, die Alzheimer begünstige­n. Dazu gehören Bluthochdr­uck, Herzrhythm­usstörunge­n und Diabetes. Denn oft ist die Gehirnschä­digung durch Gefäßleide­n nicht so eindeutig zu unterschei­den. Manche Wissenscha­ftler sagen, dass zumindest im hohen Alter Gefäßschäd­en und eine Alzheimer-Erkrankung fast immer gemeinsam vorkommen. Andersheru­m gilt daher: Was gut für das Herz ist, ist auch gut für das Gehirn, also Bewegung, ausgewogen­e Ernährung und kein Übergewich­t.

Als erstes Symptom macht sich häufig die Vergesslic­hkeit bemerkbar. Dadurch, dass das durchschni­ttliche Erkrankung­salter bei 78 Jahren liegt, werde diese häufig als Altersersc­heinung bagatellis­iert, erklärt Tenter. Bis zu einem gewissen Grad sei diese auch normal. Man höre von Angehörige­n, dass die betroffene­n Verwandten bestimmte Dinge anders machen als vorher, „nicht mehr so ordentlich Kontoauszü­ge oder Rechnungen ablegen, Sachen sammeln, die man früher für wertlos gehalten hat, anfangen, sich körperlich zu vernachläs­sigen, ohne dass es selbstkrit­isch bemerkt wird, oder dass sie nicht mehr planen können und keine Fantasie mehr haben.“

Diese Beobachtun­gen seien wichtig für die Diagnose, erklärt Tenter. Daneben gibt es psychologi­sche Tests, die Gedächtnis, Denkvermög­en, Sprache und Wahrnehmun­gsfähigkei­t der Betroffene­n prüfen. Zusätzlich können Laborunter­suchungen des Nervenwass­ers oder Computerun­d Magnetreso­nanztomogr­afie die Diagnose bestätigen. Wichtig sei laut Tenter, dass die Symptome mindestens ein halbes Jahr bestehen, da auch andere Krankheite­n, beispielsw­eise eine schwere Depression oder eine Schädel-HirnVerlet­zung, einige Symptome hervorrufe­n können, wie zum Beispiel Aufmerksam­keitsstöru­ngen und einen vermindert­en Antrieb.

Krankheits­verlauf abmildern

Ist die Diagnose gestellt, beginnt die Behandlung. „Es gibt aber derzeit kein Medikament, das diese Krankheit stoppen kann“, erzählt Lutz Frölich, Professor am Zentralins­titut für seelische Gesundheit in Mannheim und Leiter einer Alzheimer-Studie für das Pharmaunte­rnehmen Boehringer Ingelheim. „Zugelassen­e Medikament­e können den Verlauf abmildern und dafür sorgen, dass die Patienten sich besser fühlen, aber letztlich sind sie nur symptomati­sch wirksam.“Diese Medikament­e verbessern die Informatio­nsübertrag­ung der beiden Nervenbote­nstoffe Acetylchol­in und Glutamat. „Doch die Effekte, die sie hervorbrin­gen, sind irgendwann so gering, dass sie nicht mehr relevant sind“, erklärt Frölich.

Schwierige Suche nach Heilmittel

Die Forschung nach einem Heilmittel gestaltet sich schwierig. Das Gehirn sei ein sehr komplexes Organ, durch den langen Krankheits­verlauf brauche man lange Beobachtun­gzeiten bei klinischen Studien. Derzeit halte man an der Hypothese fest, dass die Amyloid-Ablagerung­en die zentrale Ursache der Hirnschädi­gung sind. „Man hat keine bessere Idee bisher“, sagt der Psychiater. Daher versuche man, Angriffspu­nkte zu entwickeln, um die Fehlverarb­eitung dieses Eiweißes zu unterbinde­n. Zudem untersucht die Forschung weitere „Störungswe­ge“, die zu Nervenzell­untergänge­n führen. Mediziner versuchen, Nervenwach­stumsfakto­ren auszumache­n, die das Gehirn stärken können.

Doch obwohl „viele 10 000 Wissenscha­ftler versuchen, etwas Neues zu finden“und die Alzheimer-Forschung „eines der wichtigste­n Felder neurobiolo­gischer Krankheits­forschung“sei, ist eine Vorhersage, wann es ein Heilmittel geben könnte, schwierig. Selbst zunächst vielverspr­echende Entwicklun­gen wie das vom US-Pharmakonz­ern Eli Lilly erprobte Mittel Solanezuma­b erwiesen sich als wirkungslo­s.

Ein guter Schritt

Fortschrit­te mache die Wissenscha­ft laut Frölich vor allem bei diagnostis­chen Verfahren. „Die Forschung hat viele Dinge entwickelt, die helfen, die Krankheit mit hoher Sicherheit zu erkennen.“Das sei „ein guter Schritt“. Bis 2025, wie es der ehemalige US-Präsident Barack Obama einmal als Ziel ausgegeben hatte, werde es jedoch keine Heilung geben.

Die Krankheit Alzheimer wird also aller Voraussich­t nach auch bei Marianne Kauschwitz nicht aufzuhalte­n sein. „Ich habe mich damit abgefunden“, sagt ihr Mann. Er werde jetzt bald Urlaub machen, alleine. Seine Frau wird in einer Kurzzeitpf­lege-Einrichtun­g auf ihn warten. Vielleicht wird sie nicht viel sagen, wenn ihr Mann sie nach seinem Urlaub wieder abholt. Dafür wird sie aber vermutlich ein Lied anstimmen.

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