Ein lautes Ja und ein leises Nein
Die Regierungspartei AKP erhält aus Deutschland mehr Zuspruch als in der Türkei
(dpa) - Wenn Zübeyde Kale in den vergangenen Wochen auf Berliner Wochenmärkten Faltblätter mit Argumenten gegen ein Präsidialsystem für die Türkei verteilt hat, wurde ihr das Herz oft schwer. Sie sagt: „Viele Menschen hören uns gar nicht zu, weil sie einfach Erdogan vergöttern.“Die Anhänger der Regierungspartei AKP vertrauten dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan oft blind. Deshalb wollten sie von ihr gar nicht genau wissen, welche konkreten Folgen die von ihrem Idol angestrebte Verfassungsreform haben würde.
Kale gehört einem Verein an, der in Berlin für die Ideen der sozialdemokratischen türkischen Oppositionspartei CHP wirbt. Mitte März organisierte er zusammen mit dem Migrationsausschuss der IG Metall Berlin eine Vortragsveranstaltung mit der Generalsekretärin des türkischen Gewerkschaftsdachverbandes Disk, Arzu Cerkezoglu. In dramatischen Worten schilderte sie die jüngsten Entwicklungen in der Türkei in puncto Meinungsfreiheit. Als sie erklärte, die Gewerkschafter ihres Verbandes hätten gemeinsam entschieden, beim Referendum mit „Nein“zu stimmen, um ein „Ein-Mann-System“zu verhindern, klatschten die rund 100 Türkeistämmigen im Saal.
Kette von Kritik und Beleidigungen
Die Auftritte von Ministern der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, die nach Europa gekommen sind, um für ein „Ja“beim Referendum zu werben, haben zu großen diplomatischen Verwicklungen geführt – Nazi-Vergleiche inklusive. Ein dramaturgischer Höhepunkt dieser Kette von Kritik und Beleidigungen war wohl die Reise von Sozialministerin Fatma Betül Sayan Kaya, die nach einem Landeverbot der Niederlande für Außenminister Mevlüt Cavusoglu am 11. März mit dem Auto von Deutschland nach Rotterdam aufgebrochen und dort von der Polizei gestoppt worden war. Die weniger spektakulären Aktivitäten der „Nein“-Kampagne wurden von der deutschen Öffentlichkeit dagegen kaum wahrgenommen.
Das hat auch rechtliche Gründe. Nach türkischem Recht dürften Parteien im Ausland nicht Wahlkampf machen, sagt der Abgeordnete der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Mithat Sancar. Er habe deshalb bei seinem Besuch in Deutschland in der vergangenen Woche nur im kleinen Kreis über das Referendum am 16. April gesprochen.
Der Wahlkampf hat nicht nur die Menschen in der Türkei stark polarisiert. Auch viele in Deutschland lebende Migranten türkischer Herkunft haben sich in den vergangenen Wochen im privaten Kreis die Köpfe heiß geredet. So mancher hat in seinem Facebook-Profil jetzt „Evet“(Ja) stehen oder „Hayir“(Nein).
Die jüngste Eskalation im deutsch-türkischen Verhältnis beunruhigt inzwischen sogar einige der in Deutschland lebenden Erdogan-Unterstützer. Die Union EuropäischTürkischer Demokraten (UETD) erklärt jetzt, sie wolle deeskalierend wirken und bis zum Referendum keine Auftritte türkischer Politiker mehr organisieren. Die UETD gilt als verlängerter Arm der AKP.
Für die in Deutschland lebenden Türken und deutsch-türkischen Doppelstaatler beginnt die Abstimmung über die Verfassungsreform schon am kommenden Montag und dauert bis zum 9. April an. Die 13 Wahllokale im Bundesgebiet sind täglich – auch sonntags – geöffnet. Wer sich spontan entscheidet abzustimmen, wird allerdings abgewiesen. Denn wer bei früheren Wahlen noch nicht in Deutschland gewählt hatte, musste sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen. Die Frist für diese Registrierung endete am 26. Februar.
Insgesamt sind in Deutschland rund 1,43 Millionen türkische Wähler registriert. Das ist mehr als in jedem anderen Land außerhalb der Türkei. Bei den türkischen Parlamentswahlen im November 2015 hatten in Deutschland 59,7 Prozent der Wähler für die AKP gestimmt. Zum Vergleich: In der Türkei selbst erhielt Erdogans Partei 49,5 Prozent der Stimmen.
Der Politologe Ferhad Seyder glaubt, dass Erdogan hierzulande besonders viele Wähler mobilisieren kann, die in der deutschen Gesellschaft „Ablehnungserfahrungen“gemacht hätten. Bei diesen komme die „Starker-Mann-Rhetorik“des Staatspräsidenten und einiger AKP-Minister gut an, sagt Seyder, der an der Universität Erfurt die Arbeitsstelle für Kurdische Studien leitet.
Außerdem leben in Deutschland durch die „Gastarbeiter“-Anwerbung der 1960er-Jahre viele Nachkommen von Arbeitern, die einst aus den Dörfern Anatoliens oder aus den Armenvierteln der türkischen Städte kamen. In diesem islamisch-konservativ geprägten Milieu, aus dem auch Erdogan stammt, ist die AKP auch in der Türkei besonders stark.