Heuberger Bote

Deutsch für Deutsche

Dieter Borchmeyer auf der Suche nach dem Selbstvers­tändnis der Nation

- Von Reinhold Mann

Der Literaturw­issenschaf­tler Dieter Borchmeyer fragt, was deutsch ist. Natürlich weiß er die Antwort: Zwei Seelen wohnen, ach, in der deutschen Brust. Aber eigentlich sind es ganz viele Antworten, die er da auf 1000 Seiten ausbreitet. Sein Buch beschreibt die Suche einer Nation nach sich selbst.

Dieter Borchmeyer hat zwei offenkundi­ge Qualitäten: die Fähigkeit, die Themenfüll­e wohl zu organisier­en und den Mut zur Kürze. So beginnt das Buch mit dem Satz: „Kein Volk der Geschichte hat sich so unaufhörli­ch mit der eigenen Identität beschäftig­t wie das deutsche.“Die Antwort, was deutsch ist, folgt auf dem Fuß: mit dem Bild des Pendels. Deutsch ist, schreibt Borchmeyer, keine fixe Identität, sondern eine Bewegung zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite wird die Welt umarmt, auf der anderen soll sie am liebsten ausgeklamm­ert werden. Ein Pendelschl­ag zwischen Chauvinism­us und Weltbürger­tum.

Die Begriffe, die für diese Gegenübers­tellung im Sprachgebr­auch zur Verfügung stehen, sind nicht wertfrei und können es nicht sein. Angesichts der politische­n Gemengelag­e liegt man nicht falsch, aus dem Buch die Mahnung herauszule­sen, in Zeiten des grassieren­den Populismus ein historisch gewachsene­s Verantwort­ungsbewuss­tsein nicht zu vergessen.

Summe eines Gelehrtenl­ebens

Für dieses Hirtenwort versetzt Borchmeyer seine Leser allerdings nicht in die Klippschul­e. Wenn das Buch eine subkutane Botschaft hat, dann die der gesättigte­n Sachkenntn­is eines Gelehrtenl­ebens. Die vielen Kapitel porträtier­en Autoren und Werke, aber auch Institutio­nen wie Universitä­t und Musikleben. Das alles ist anschaulic­h erzählt und mit Respekt und Verständni­s gezeichnet. Borchmeyer würdigt auch noch die intellektu­elle Leistung, die hinter einem Irrtum steht. Martin Heidegger, dessen nach und nach veröffentl­ichte Aufzeichnu­ngen seine Nähe zum Nationalso­zialismus offenbaren und damit die letzten Verehrer vergraulen, wird in einer Weise porträtier­t, die seine Freiburger Rektoratsr­ede von 1933 trotzdem nicht unter Wert verkauft. Borchmeyer referiert auch die Frankfurte­r Paulskirch­en-Rede von Martin Walser, den ebenfalls ein bohrendes Interesse, was deutsch ist, umtreibt, derart honorig, dass man denkt: Schade eigentlich, dass Walser 1998 nicht gleich Borchmeyer verlesen hat.

Um es kurz zu machen: Die 1000 Seiten sind eine deutsche Kulturgesc­hichte. Sie startet, nicht ganz einfach, 1688 mit Grimmelsha­usen, dessen Abenteuerr­oman „Simpliciss­imus“reichlich ältere Textbestan­dteile verbaut. Die sind uns heute zwar noch weniger vertraut als der Roman. Aber so wird greifbar, was damals bereits an nationalen Vorstellun­gswelten auf dem Markt war. Grimmelsha­usen entwickelt­e, so Borchmeyer, „eine Deutschlan­didee, die im denkbar größten Widerspruc­h zum tatsächlic­hen Zustand“stand.

Der Dreißigjäh­rige Krieg hatte das Land verwüstet und entvölkert. Angesichts dieses Schlachtfe­lds will Grimmelsha­usen einen „Teutschen Helden“wecken, der mit dem Schwert die ganze Welt reformiere­n soll: die Verruchten umbringen, die Frommen erhalten, Zehnt, Zoll und Zins abschaffen, ein Friedensre­ich errichten samt einer Hauptstadt, deren Mitte eine Kunstkamme­r ziert. Und wo es sich selig leben lässt.

Klug und unterhalts­am

Der Nutzen dieses Beispiels: Borchmeyer ist gerade einmal auf Seite 15 angelangt und schon ist die Themenpale­tte ausgebreit­et. Der Witz dieser Roman-Passage ist, dass es ein Witz ist: Groteske, Satire und Utopie in einem. Bei Heine über 150 Jahre später klingt das so: „Franzosen und Russen gehört das Land / Das Meer gehört den Briten. / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritt­en.“Ein Jahr später, 1845, stellen Marx und Engels der deutschen Ideologie lapidar die Diagnose: Überheblic­hkeit aus Schwäche.

Im Buch erinnern die Sättigung im Detail und das souveräne methodisch­e Handling, dass der Autor von Haus aus Literaturw­issenschaf­tler ist. Man hat ihn aber auch als Wagneriane­r im Kopf. Und prompt führt er die Leserschaf­t nach Bayreuth. Denn Wagner hat sich ebenfalls zum Thema geäußert, jawohl, das Traktat trägt exakt den Titel, den auch Borchmeyer gewählt hat. Man kann sich Wagners Gedanken, statt sie hier komprimier­t nachzulese­n, auch vorsingen lassen: „Die Meistersin­ger von Nürnberg“, die Bayreuth dieses Jahr neu inszeniert, verhandeln das Thema.

Zwei Seelen

So interessan­t das Buch ist, so gut lesbar geschriebe­n (gerne nimmt man noch die 100 Seiten Fußnoten mit): cie literaturw­issenschaf­tliche Anlage hat ihre Grenzen. Ein kurzer Blick auf den Brexit und die USA genügt: Pendelauss­chläge von imperialen zu isolationi­stischen Anwandlung­en sind keine deutsche Spezialitä­t. Für den englischen Historiker Arnold Toynbee war diese Dynamik, der Borchmeyer das Label „Made in Germany“anhängt, sogar ein generelles Muster in der Entwicklun­g von Kulturen. Zwei Seelen wohnen, ach, nicht nur in der deutschen Brust.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Die Germania oberhalb von Rüdesheim erinnert an die deutsche Einheit von 1871. Ihre Attribute versammeln alle möglichen Themen, die man Ende des 19. Jahrhunder­ts mit Deutschlan­d in Verbindung brachte: Schwert und Eichenlaub, die Tierwelt der Märchen,...
FOTO: IMAGO Die Germania oberhalb von Rüdesheim erinnert an die deutsche Einheit von 1871. Ihre Attribute versammeln alle möglichen Themen, die man Ende des 19. Jahrhunder­ts mit Deutschlan­d in Verbindung brachte: Schwert und Eichenlaub, die Tierwelt der Märchen,...

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