Seligmachende Seelen
Dieser Tage kam in einem Gespräch die Frage auf, ob es eigentlich Fastenseelen gibt. Die Antwort ist ganz einfach: Nein. Da lag wohl eine Verwechslung mit
Fastenbrezeln vor, die in Oberschwaben vor Ostern angeboten werden und trotz ihres bleichen, um nicht zu sagen ungesunden Aussehens als Köstlichkeit gelten. Warum sie im Gegensatz zu normalen Laugenbrezeln nicht schön braungebrannt sind, erhellt eine alte Legende: Danach soll einst der Lehrling in einer Biberacher Bäckerei vergessen haben, die Lauge rechtzeitig anzusetzen. Da warf der Meister die Teigbrezeln kurzerhand in kochendes Wasser, schob sie in den Ofen – und fertig war das blasse Gebäck. Schon 1598 wird diese Spezialität urkundlich erwähnt. Damals ließ der Biberacher Bürgermeister Fastenbrezeln an die Aussätzigen verteilen, die vor der Stadt hausten. Und hier liegt durchaus der Gedanke an die Seelen nahe, jene anderen Leckerbissen, die in keiner oberschwäbischen Bäckerei fehlen dürfen. Ihren Namen haben sie vom Allerseelentag am 2. November. Schon in vorchristlicher Zeit wurden den Toten zu ihrem Gedenken Speiseopfer dargebracht, und wie so oft – gerade auch bei der Brezel, einem ursprünglich germanischen Gebäck in Form eines Sonnenrades
– münzten die Kleriker des Mittelalters solche Bräuche auf christliche Inhalte um. So wurden die Seelenbrote zu mildtätigen Spenden an Arme, Kranke und Kinder im Geiste des Evangeliums. Wobei sich jetzt noch eine andere, übrigens auch oft von Lesern gestellte Frage aufdrängt: Warum schreibt man Seele eigentlich mit zwei e, das Adjektiv selig aber nur mit einem? Auch hier ist die Antwort einfach: Weil die beiden Wörter nichts miteinander zu tun haben. Selig ist ein altes germanisches Wort und hat heute vor allem zwei Bedeutungen. Zum einen eine eher allgemeine: überglücklich, wunschlos glücklich. Ein Beispiel: Sie lächelte ihn selig an. Zum anderen eine stark christlich geprägte: von allen
irdischen Übeln befreit, der himmlischen Wonnen teilhaftig. Man denke an die Seligpreisungen der Bergpredigt der Bibel. Oder aber an jenes Zitat aus der Geheimen Offenbarung des Johannes, das Brahms an den überirdisch schönen Schluss seines „Deutschen Requiem“setzte: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben …
Unser Wort Seele im Sinn von Gesamtheit des menschlichen Denkens und Empfindens, körperloser, unsterblicher Teil des Menschen – dazu gehört das Adjektiv seelisch – stammt zwar auch aus einer germanischen Wurzel, aber mit anderer Bedeutung: Aller Wahrscheinlichkeit nach hat es mit See zu tun. Unsere heidnischen Vorfahren sollen geglaubt haben, dass die Seelen der Menschen vor ihrer Geburt im Wasser wohnen und nach dem Tod dorthin auch wieder zurückkehren. Womit wieder einmal bewiesen wäre, wie wirkmächtig die Vorstellung vom Wasser als Quell allen Lebens ist – und wie alte Mythen in unserer Sprache fortbestehen.