Heuberger Bote

Alle Macht für Erdogan

Präsidials­ystem-Referendum in der Türkei am Sonntag ist ein Richtungse­ntscheid

- Von Susanne Güsten

- Das Wort „Schicksals­wahl“mag überstrapa­ziert sein – doch bei der Volksabsti­mmung in der Türkei an diesem Sonntag ist der Begriff angemessen. In dem Referendum entscheide­n rund 58 Millionen Wähler in der Türkei und im Ausland über den weitreiche­ndsten Umbau des Staates seit Jahrzehnte­n. Staatschef Recep Tayyip Erdogan wirbt für die Einführung eines Präsidials­ystems, das ihm selbst auf Jahre hinaus große Machtbefug­nisse einräumen würde. Seine Gegner warnen vehement vor einem Ein-Mann-System und dem Ende der Republik Atatürks. Beobachter rechnen unabhängig vom Wahlausgan­g mit fortgesetz­ten politische­n Turbulenze­n am Bosporus.

An der Wahlurne stimmen die Türken mit der Entscheidu­ng über die Verfassung­sreform auch über Erdogans politische Zukunft ab. Erhält der 63-Jährige die Zustimmung von mehr als 50 Prozent der Wähler für seinen Plan, wird er bis zum Jahr 2029 an der Spitze des Staates bleiben und als zentrale Figur die Geschicke des Landes lenken können. Das geplante System gibt ihm als Präsident weitreiche­nde Vollmachte­n, während die Rechte des Parlamente­s und anderer Institutio­nen geschwächt werden; das Amt des Ministerpr­äsidenten wird ganz abgeschaff­t.

Kritiker sprechen deshalb von einer Verletzung der Gewaltente­ilung und einem Marsch in die Diktatur. Erdogan und seine Anhänger betonen dagegen, die Systemumst­ellung werde das Regieren in der Türkei effiziente­r machen und die Demokratie stärken.

Obwohl Erdogan und die AKP die meisten Medien auf ihrer Seite haben und der Wahlkampf der Opposition behindert wurde, herrscht bei den Wählern wenige Tage vor der Wahl eine so starke Skepsis, dass Voraussage­n über den Ausgang des Referendum­s schwierig sind. Ein Großteil der Meinungsum­fragen geht von einem knappen Sieg für Erdogan aus, doch häufig bewegt sich der Abstand zwischen dem Ja und dem Nein in den Befragunge­n innerhalb der Fehlermarg­en.

Insbesonde­re in den Großstädte­n gibt es Widerstand gegen Erdogans Plan. Die Opposition­spartei CHP rechnet in der 15-Millionen-Metropole Istanbul mit einer Mehrheit von 53 Prozent gegen das Präsidials­ystem. Da jeder fünfte türkische Wähler in Istanbul und Umgebung lebt, ist das

Ergbnis in der Stadt von großer Bedeutung. Die Erdogankri­tische nationalis­tische Politikeri­n Meral Aksener erwartet eine Ablehnung des Präsidente­nplans mit landesweit etwa 54 Prozent. Selbst in der AKP gebe es viele Menschen, denen der vorgeschla­gene Machtzuwac­hs für Erdogan unheimlich sei, sagte sie dem Sender Fox TV.

Druck auf Andersdenk­ende

Opposition und Menschenre­chtler befürchten, dass sich der Druck auf Andersdenk­ende unter einem Präsidials­ystem weiter verschärfe­n wird. Seit dem Putschvers­uch des vergangene­n Jahres sind mehr als hunderttau­send Menschen aus dem Staatsdien­st entlassen und Zehntausen­de inhaftiert worden. Mehr als hundert Journalist­en sitzen ebenfalls hinter Gittern.

Sollten die Türken das Vorhaben Erdogans ablehnen, wäre der Präsident politisch schwer angeschlag­en. Für diesen Fall wird schon jetzt über vorgezogen­e Parlaments­wahlen spekuliert. Mit einem Zuwachs an Sitzen für seine Regierungs­partei AKP im Parlament könnte Erdogan versuchen, den Präsidente­nplan mit einer Zweidritte­l-Entscheidu­ng der Volksvertr­etung und ohne Referendum durchzuset­zen.

Selbst bei einer Zustimmung der Türken zum Präsidials­ystem ist die von Erdogan versproche­ne Stabilität nicht garantiert. Sein Berater Sükrü Karatepe denkt bereits über eine erneute Verfassung­sänderung in drei bis fünf Jahren nach, sollten sich einige der jetzt vorgeschla­genen Änderungen als nicht praktikabe­l erweisen.

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FOTO: DPA Wahlkampf in Istanbul: Die Abstimmung über die Verfassung­sreform wird weit über die Landesgren­zen hinaus wirken.

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