Wenn junge Seelen leiden
Kinder- und Jugendliche werden immer häufiger depressiv – Frühzeitige Hilfe ist wichtig
- Als sich die Eltern scheiden ließen, sagte die Mutter über ihren zwölfjährigen Sohn: „Die Trennung ist nicht einfach für ihn, aber der Jan, der packt das.“Und der Jan packte es, so sah es zumindest anfangs aus. Er tröstete die Mutter, wenn diese weinte, manchmal machte er das Frühstück. Er blieb aber auch immer öfter zu Hause. Vergrub sich in seinem Zimmer. Meldete sich nicht mehr bei seinen Freunden und seine Freunde meldeten sich nicht bei ihm. Mal war er traurig, mal gereizt. Und als Jan immer öfter der Schule fernbleiben wollte, dachte die Mutter: „Da stimmt was nicht.“Jan hat es eben nicht geschafft, er bekam eine Depression. Mit zwölf Jahren.
Jan ist ein fiktiver Fall, doch solche oder ähnliche Krankheitsverläufe erlebt Isabel Böge immer wieder. Die Chefärztin der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des ZfP Südwürttemberg in Ravensburg sagt: „Depression kann einen in jedem Alter ereilen.“Zeigen sich nach Angaben des Robert-Koch-Instituts im Kleinkindalter bei drei Prozent Symptome wie Weinen, Überanhänglichkeit oder vermehrtes Weinen, nimmt die Zahl der Betroffenen mit steigendem Alter zu. In der Grundschule gelten schon zwei Prozent der Kinder als erkrankt, bei den 12 bis 17-Jährigen leiden bis zu zehn Prozent unter Depression. Die Krankheit aber ist selbst für Experten nicht leicht erkennbar: „Depression ist etwas sehr verstecktes“, sagt Isabel Böge.
Der Kinder- und Jugendtherapeut Martin Baierl meint, nur die Hälfte aller Fälle werden erkannt, weil Eltern bei Auffälligkeiten eher zum Kinder- oder Hausarzt gingen, aber nicht zum Spezialisten. Außerdem fällt bei Kindern und Jugendlichen die Diagnose schwer, da ihr Verhalten gerne dem Alter, der Pubertät oder einer Phase zugeschrieben werden. Es macht aber einen Unterschied, ob ein Mädchen aus der Laune raus sagt: „Ich bin heute depri drauf“oder ob es sich innerlich zurückzieht, ob sich Mimik und Gestik reduzieren, ob Ängstlichkeit und Traurigkeit auftreten oder Schlafoder Essstörungen hinzukommen. So unterschiedlich Kinder und Jugendliche in ihren Charakteren sind, so vielfältig sind die Symptome. Depression kennt viele Gesichter. Und sie nimmt unter Kinder- und Jugendlichen zu.
Allein in Baden-Württemberg hat sich bei den 10- bis 19-Jährigen die Diagnose Depression in den Jahren von 2000 bis 2012 versechsfacht von 216 auf 1375. Auch in jüngster Zeit nehmen die Fallzahlen weiter zu, das bestätigt Isabel Böge aus ihre Arbeit beim ZfP. Zwar würde heute eine Depression besser erkannt als früher, was sich in der Statistik niederschlage, der eigentliche Grund für die Zunahme liege aber woanders: „Die Familiensysteme werden immer instabiler.“
Kann schon die Arbeitslosigkeit des Vaters dem Nachwuchs aufs Gemüt schlagen, gilt die Trennung der Eltern als häufigster Auslöser einer Depression bei den Kindern. Die gute Nachricht: Einmal, und am besten frühzeitig erkannt, ist sie gut heilbar, wenn auch nur selten über Medikamente. „Bei jungen Menschen sind die Neurorezeptoren noch nicht ausgebildet, an denen die Wirkstoffe für gewöhnlich andocken“, sagt Böge. Alternativ wird gerne Johanniskraut verabreicht, vor allem aber soll eine ambulante Psychotherapie greifen. „Hier wollen wir die falsche Wahrnehmung der Betroffenen korrigieren und ihr Selbstwertgefühl stärken“, sagt die Expertin.
Parallel dazu werde versucht, das Familiensystem zu stabilisieren und Sicherheit über Gleichaltrige zu schaffen, etwa über eine Vereinsmitgliedschaft.
Eine stationäre Unterbringung ist eher die Ausnahme, so Böge, auch wenn bei 50 Prozent der Patienten eine Suizidalität vorliegt. Zumal Selbsttötung zu den häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen gehört. Allerdings relativiere sich das Bild beim Blick auf die absoluten Zahlen. „In meinen elf Jahren beim ZfP gab es zwei vollzogene Suicide.“Bei Kindern und Jugendlichen handele es sich eben oft um Momentaufnahmen. „Dann heißt es: ,Jetzt, sofort bringe ich mich um.’ Und eine halbe Stunde später ist alles wieder deutlich besser.“
Anzeichen ernst nehmen
Ernst nehmen müsse man die Gefahr natürlich trotzdem, das gilt aber auch schon bei Stimmungsschwankungen des Kindes, bei Niedergeschlagenheit oder Gereiztheit – bei Anzeichen einer Depression. „Eltern sollten diese Dinge wahrnehmen, ansprechen und im Zweifel immer einen Experten aufsuchen.“Und dies lieber einmal zu viel, als einmal zu spät.