Pfeifen im Real-Wald
Beim 1:2 des FC Bayern irritieren ein Wechsel, das System und der Mangel an Überzeugung
- Nicht immer lässt sich Fußball erkenntnisbringend in Statistiken fassen. An diesem 12. April 2017 aber gaben die Zahlen beredt Auskunft: 11:22 Torschüsse – in Halbzeit zwo unfassbare 2:16 –, unmünchnerische 48,2 Prozent Ballbesitz bloß für die Gastgeber, Sturm-Solist Thomas Müller 31 Kontakte mit dem Spielgerät, Torhüter Manuel Neuer deren 41. Macht in der Addition das bittere 1:2 (1:0) des FC Bayern gegen Real Madrid, macht den Halbfinaleinzug in der Champions League zur Du-hastkeine-Chance-also-nutze-sie-Aufgabe kommenden Dienstag (20.45 Uhr; live bei Sky) im Estadio Santiago Bernabéu. Oder, um Carlo Ancelotti zu bemühen: „Noch sind 90 Minuten zu spielen.“
Stimmt. Und klang doch nach Pfeifen im Wald. Sehr dunkel war der geworden – furchterregend dunkel – nach gut einer Stunde. Der defensiven Kontrolle war Trainer Ancelottis Mannschaft vom Wiederanpfiff weg verlustig gegangen: David Alaba ließ Dani Carvajal ungestört flanken, Javi Martínez war bei Cristiano Ronaldos Direktabnahme zum Ausgleich (47. Minute) ebenso staunendes, weil zu spät reagierendes Beiwerk wie Juan Bernat beim Sohlenstreichler von „CR7“zum 1:2 (77.). Individuelle Aussetzer waren das, zu erklären vielleicht noch mit der Weltklasse des Portugiesen, mit der Stärke seiner Neben(eminent gefährlich: Karim Benzema) und Hinterleute (punktgenau passend: Toni Kroos). Doch fehlten den Bayern spätestens nach Martínez’ Feldverweis (61.) auch Struktur und Strategie, nach Xabi Alonsos Auswechslung (64.) der ordnende Fuß, die Stabilität. Weshalb ausgerechnet Alonso? Die Frage musste sich Carlo Ancelotti gefallen lassen. Seine Antwort: „Mit zehn gegen elf mussten wir auf Konter spielen, und ich wollte diese Qualität mit Thiago auf dem Platz behalten.“Doch Thiago, sonst Vordenker und Vorbereiter, tanzte nur 45 Minuten – die ersten. Jetzt wirkte er überfordert.
Fatal, dass er in bester Gesellschaft war. Ausnahme: Manuel Neuer. „Wie eine Wand!“, adelte Gäste-Übungsleiter Zinédine Zidane – und dürfte da vor allem an den herausschnellenden rechten Neuer-Arm bei Ronaldos wuchtigem Schuss aus der Nahdistanz (75.) gedacht haben. FC Neuer München gegen Real Madrid hieß die Paarung mitunter, jetzt, da die Bayern keine Sicherheitspässe mehr spielten wie phasenweise in einer sonst ansehnlichen ersten Hälfte. Sondern Fehlpässe – allesamt. Auch Arturo Vidal, der so etwas wie der personifizierte Spielfilm gewesen ist am Mittwochabend: Führungstreffer (25.), Kopfball-Großchance (41.), fahrlässig vergebener Handelfmeter (45.+1). Das Gros seiner 69 Zuspiele fand das Ziel, die Irrläufer sah man gehäuft in der Zehn-gegen-elf-Zeit. Was auch an den Adressaten lag: Franck Ribéry wurde des Hakenschlagens mehr und mehr müde, den lange agilen Arjen Robben nervte die wachsende Diskrepanz zwischen Wollen und Gelingen.
Und Thomas Müller? Ist kein Robert Lewandowski, kein Stoßstürmer. Und doch ließ Carlo Ancelotti so spielen, als sei er einer. Änderte notgedrungen sein Personal, nicht aber sein System. Die Folge: Ein Raumdeuter ohne Raum, die Deutungshoheit im Strafraum der Madrilenen rissen konsequent, gnadenlos Sergio Ramos und Nacho Fernández an sich. In vorderster Spitze ist Thomas Müller eingeschränkt in seinen Laufwegen, beschnitten in der Chance zum Überraschend-Kreativen. Torgefahr verbreitete er folglich kaum, selten nur (besagte 31 Ballkontakte) war er Anspielstation – eine überdies, der Robert Lewandowskis Fähigkeit, Bälle zu halten, zumindest an diesem 12. April 2017 abging. Und Entlastung hätte so Not getan, als der Wald dunkel wurde.
Auch Boateng ist angeschlagen
Danach mehrheitliches Pfeifen. Von Manuel Neuer („Wir haben die erste Halbzeit gesehen“), von Kapitän Philipp Lahm („Manu hat uns im Spiel gehalten, sodass wir noch alle Chancen haben“), vom Trainer, der flugs seine etatmäßige Nummer 9 von aller Schulter-Pein freisprach für Dienstag (und damit wohl richtig liegt), der Mats Hummels’ Einsatz nach Sprunggelenksblessur als möglich ansah (am Freitag trainierte der Innenverteidiger schon wieder – im Wasser). Auch dass Jérôme Boateng als 1:2-Souvenir leichte Adduktorenprobleme bekam und beim Liga-Gang nach Leverkusen heute (18.30 Uhr; live bei Sky) ausfällt, nahm Carlo Ancelotti bemerkenswert gelassen: „Wir denken, dass er gegen Real bereit ist.“
Das sollten alle elf Bayern-Akteure sein. „Zehn bis 15 Prozent an Überzeugung“hatte Arjen Robben im Hinspiel vermisst, den „letzten Biss nach vorne“. Das ist keine Sache von Verletzten, von Taktik, kann nicht einfach weggepfiffen werden. Und irritiert. Wieso das so war, wo sie gewesen ist, die vermeintliche Hochform der Ancelotti-Bayern im endlich richtigen Saison-Moment – die Frage blieb unbeantwortet. „Ich“, sagte Arjen Robben, „weiß es nicht.“