Auf der Suche nach ein wenig Normalität
Dortmund versucht, seine Angst und Wut zu verarbeiten und hofft auf Rückkehrer Reus
(dpa/SID/sz) - Für seine Kritik an der raschen Neuansetzung des Champions-League-Viertelfinals gegen den AS Monaco, die nach der 2:3-Niederlage alle seine Spieler teilten, hat Thomas Tuchel eine Welle von Zuspruch anderer Trainer erhalten. Dass Borussia Dortmund nicht einmal 24 Stunden nach dem Sprengstoffanschlag auf seinen Teambus spielen musste, spaltet die Fußballwelt. „Wir sind keine Tiere, wir sind Menschen, die Familie und Kinder zu Hause haben. Ich fühle mich wie ein Tier, nicht wie ein Mensch. Es war der schlimmste Tag in meinem Leben“, hatte Abwehrchef Sokratis danach unter Tränen gesagt, auch Nuri Sahin war wütend: „Dass man mit Fußball ein Zeichen setzen soll, ist weit entfernt von meinem Verständnis“, erklärte er. Weltmeister Matthias Ginter betonte, dass „von unserer Seite aus niemand spielen wollte“.
Zuspruch kam vom früheren BVBCoach Jürgen Klopp. „Ich bin mir ziemlich sicher, wenn einer der Leute, die das entschieden haben, im Bus gesessen hätte, hätten sie die Partie nicht gespielt“, sagte Klopp. Weltmeister Toni Kroos sah es ähnlich: „Dass die Spieler dann heute direkt auflaufen müssen, ist nicht ideal“, sagte der Star von Real Madrid. Er könne sich vorstellen, dass es „ein bisschen länger als einen Tag“brauche, das Erlebte zu verarbeiten. Hoffenheims Trainer Julian Nagelsmann nannte den schnellen Übergang zum Tagesgeschäft „mehr als unglücklich“. Auch Frankfurts Coach Niko Kovac solidarisierte sich mit den BVB-Aktiven – und kritisierte die Atemlosigkeit der Branche. „Es ist schon paradox, wenn man als Fußballer keine Zeit mehr hat, um solche Dinge als Mensch zu verarbeiten. Es geht immer weiter und immer höher und immer schneller.“
Tatsächlich sieht der enge Spielkalender keine außerplanmäßigen Pausen vor. Frankfurt, Monaco, Mönchengladbach, Bayern, Köln – so heißt das Programm für den BVB allein bis Ende April. Viele Offizielle hoben die organisatorischen Zwänge sowie eine notwendige Unbeugsamkeit gegenüber den Tätern hervor. Bayern Münchens Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge argumentierte ganz auf Linie seines Dortmunder Kollegen Aki Watzke. Es sei „organisatorisch gar nicht anders möglich“gewesen, sagte er. Und: „Es kann nicht sein, dass man sich einer Gewalt beugt.“
Auch Freiburgs Trainer Christian Streich, den mancher das „Gewissen der Liga“nennt, sprach davon, dass Dortmund „eine größere Mission“als das Halbfinale gehabt habe. „Der sportliche Erfolg kann zweitrangig sein, wenn es um eine Botschaft geht, die man an diejenigen schickt, die die Menschen in die Luft sprengen wollen“, sagte er.
Ähnlich argumentiert der künftige Sicherheitschef des Weltverbands FIFA. „Wenn wir einknicken, machen wir genau das, was diese Kriminellen wollen“, sagte Helmut Spahn und formulierte ein Kriterium für eine Absage. „Wenn es Tote gegeben hätte, hätte natürlich kein Spiel stattgefunden.“
Auch diese Rote Linie hat der organisierte Sport durch seine häufig geäußerte, politisch geprägte „The Games must go on“-Botschaft bereits durchbrochen. Mit diesem Satz ließ der damalige IOC-Präsident Avery Brundage die Olympischen Spiele 1972 in München fortsetzen, nachdem ein palästinensisches Terrorkommando das israelische Team überfiel. Elf Israelis und ein deutscher Polizist starben, fünf Terroristen kamen ums Leben. Und trotz der Terroranschläge in den USA kurz zuvor hatte die Uefa am 11. September 2001 einen Champions-League-Spieltag angesetzt – entgegen dem Willen der Vereine.
Für Tuchel („Wir wurden behandelt, als ob eine Blechdose gegen den Bus geflogen wäre“) gehen die Probleme allerdings weiter, die Frage ist: Wie schafft es seine Mannschaft, die gegen Monaco vor der Pause spielte wie von allen guten Geistern verlassen, den Anschlag so zu verarbeiten, dass sie sich wieder allein auf Fußball konzentrieren kann – zumal die Attentäter noch immer nicht gefasst sind? „Wir müssen einen Weg finden“, sagte Tuchel. „Den Weg zurück zum Spaß und zur Sinnhaftigkeit.“
Marc Bartras Osterbotschaft
Helfen dabei dürfte der Psychologe, den der BVB ins Boot geholt hat, helfen könnte auch Marco Reus: Nach sechs Wochen Pause wegen einer Oberschenkelblessur kehrt der 27 Jahre alte Nationalspieler heute gegen Frankfurt zurück. „Marco wird spielen. Das ist eine große Freude bei seinem Trainer und mit Sicherheit bei allen Mitspielern – und eine absolut gute Nachricht“, sagte Tuchel. Offen ist, ob Reus in der Startelf ist. Tuchel: „Das würde viel Energie freisetzen.“
Am Donnerstag ordnete der Trainer Auslaufen und Regeneration an, bis Freitagnachmittag hatten die Spieler frei. Vor allem für die Leistung nach der Pause habe man „der Mannschaft ein dickes, dickes Kompliment ausgesprochen“, sagte Tuchel, der selbst ein Lob des Leipziger Kollegen Ralph Hasenhüttl bekam: „Ich weiß nicht, ob ich das Spiel als Trainer überhaupt hätte coachen können.“
Einer wird den Borussen in jedem Fall noch vier Wochen fehlen: Marc Bartra, das Opfer der Sprengsätze, der einen Handgelenksbruch erlitt und sich aus dem Krankenhaus nach „den längsten und härtesten Minuten meines Lebens“mit einer Osterbotschaft zu Wort meldete: „Das Einzige, worum ich bitte, ist, dass wir in Frieden leben und die Kriege hinter uns lassen.“Als Tuchel auf den Spanier zu sprechen kam, konnte er fast schon wieder scherzen: „Er würde am liebsten schon am Samstag mit Ganzarmgips spielen und hat vor, bei seiner Genesung alle Rekorde zu brechen.“