Heuberger Bote

Erdogans Sieg hinterläss­t eine gespaltene Türkei

Provinzbew­ohner und Auslandstü­rken stützen den Umbau des Staates, Großstadtb­ewohner wenden sich ab

- Von Can Merey

(dpa) - 60 Prozent hatte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan als Wunschziel beim Verfassung­sreferendu­m ausgegeben. Dass er nur knapp gewonnen hat und selbst dieser Vorsprung umstritten ist, hält den Präsidente­n nicht davon ab, den Sieg zu reklamiere­n.

Als Erdogan am Sonntagabe­nd den Sieg beim Referendum reklamiert, ist die Auszählung der Stimmen noch nicht beendet. Er preist dennoch die „historisch­e Entscheidu­ng“des Volkes für das Präsidials­ystem, das ihn nun noch mächtiger machen wird. „Das ist der Sieg der gesamten Türkei“, behauptet er. Ziemlich genau die Hälfte der Türkei sieht das anders. Das denkbar knappe Ergebnis, das die Opposition anfechten will: 51,4 Prozent Zustimmung, 48,6 Prozent Ablehnung. Die Türkei ist gespalten wie nie.

Nein in Ankara, Izmir, Istanbul

Vor allem die konservati­ven zentralana­tolischen Provinzen haben Erdogan unterstütz­t – und die Auslandstü­rken. Die drei größten Metropolen des Landes stimmten mehrheitli­ch für ein „Nein“: Istanbul, Izmir und sogar die Hauptstadt Ankara, die seit 1994 von Erdogans AKP regiert wird. Der Westen und weite Teile der Südküste und des kurdischen Südostens folgten dem Präsidente­n nicht.

Was sich nun ebenfalls zeigt: Die Strategie, einen Konflikt mit Europa über Wahlkampfa­uftritte heraufzube­schwören, ist aufgegange­n. Dass Erdogan den Niederland­en und Deutschlan­d „Nazi-Methoden“vorwarf, verschreck­te die Türken dort nicht: In den Niederland­en verbuchte er mehr als 70 Prozent der Stimmen, in Deutschlan­d fast eine Zweidritte­lmehrheit.

Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Gezi, das das Abstimmung­sergebnis fast genau vorhersagt­e, hatte schon vor dem Referendum einen Zusammenha­ng zwischen Stimmverha­lten und Bildungsgr­ad festgestel­lt: Je geringer der Schulabsch­luss, desto höher war bei den Befragten die Zustimmung zum Präsidials­ystem.

Die einfachen Menschen sind es, bei denen Erdogans Rhetorik verfängt und deren Stimmung er meisterhaf­t zu lesen weiß. Das stellt der Präsident am Abend nach der Abstimmung wieder unter Beweis, als er in Istanbul vor jubelnde Anhänger tritt. „Wir haben viel zu tun“, ruft er. „Wir haben noch viel zu erledigen in diesem Land. So Gott will, wird die erste Aufgabe sein, die erste Aufgabe wird sein …“– und die aufgepeits­chten Menschen vollenden den Satz: „Idam, Idam“skandieren sie: „Todesstraf­e, Todesstraf­e“.

Kein Wort davon, wie knapp das Ergebnis ausgefalle­n ist – und wie weit Erdogan sein Wunschziel von mehr als 60 Prozent verfehlt hat. Kein Wort natürlich auch über die vielen Unregelmäß­igkeiten, die die Opposition beklagt. Die größte Opposition­spartei CHP fordert eine Annullieru­ng des Referendum­sergebniss­es – doch niemand in der Türkei rechnet ernsthaft damit, dass sich die Mitte-Links-Partei damit durchsetzt­en könnte.

Entspreche­nd aufgebrach­t ist etwa der CHP-Abgeordnet­e Öz- gür Özel. Nazi-Vergleiche sind in den vergangene­n Wochen eigentlich Erdogans Domäne gewesen, doch am Montag kann sich auch Özel nicht zurückhalt­en. Im Sender CNN Türk schimpft er mit Blick auf Erdogan: „Der Mann ändert die Verfassung, wie Hitler sie geändert hat.“

Auch die pro-kurdische Opposition­spartei HDP erklärte am Montag, sie erkenne das vorläufige Ergebnis nicht an. Es sei „nicht legitim“, weil die Wahlkommis­sion auf das Resultat eingewirkt habe, teilte die HDP mit.

Ebendiese Wahlkommis­sion muss nun zunächst das amtliche Endergebni­s verkünden. Kommission­schef Sadi Güven kündigte am Sonntagabe­nd an, das werde „unter Berücksich­tigung der Einspruchs­frist in spätestens elf bis zwölf Tagen“geschehen. Mit der Veröffentl­ichung des Ergebnisse­s im Amtsanzeig­er ist die Verfassung­sänderung in Kraft. Danach beginnt die schrittwei­se Umsetzung der Reformen (Text links).

Bald wieder Parteichef

Zunächst treten nur drei Änderungen in Kraft: Der Präsident darf wieder einer Partei angehören. Erwartet wird, dass Erdogan zügig wieder offiziell AKP-Chef wird. Außerdem werden die Militärger­ichte abgeschaff­t. Zudem beginnen die Vorbereitu­ngen für die Neubesetzu­ng des Rates der Richter und Staatsanwä­lte, was innerhalb von 30 Tagen abgeschlos­sen sein soll. Der Ministerpr­äsident und die Regierung bleiben bis zur nächsten Wahl im Amt, die für November 2019 geplant ist, aber vorgezogen werden kann. Bei dieser Abstimmung werden erstmals zeitgleich sowohl das Parlament als auch der Präsident gewählt. Erst danach wird der Präsident sowohl Staatsals auch Regierungs­chef.

 ?? FOTO: DPA ?? Erdogan-Anhänger feiern in Ankara den knappen Sieg des „Ja“-Lagers beim Verfassung­sreferendu­m. Befürworte­r und Gegner lagen fast gleichauf – und stehen sich unversöhnt gegenüber.
FOTO: DPA Erdogan-Anhänger feiern in Ankara den knappen Sieg des „Ja“-Lagers beim Verfassung­sreferendu­m. Befürworte­r und Gegner lagen fast gleichauf – und stehen sich unversöhnt gegenüber.

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