Stuttgart stinkt
Fahrverbote gegen Feinstaub könnten helfen – der Wirtschaft geht das zu weit, Umweltschützern nicht weit genug
- Wenn Manfred Niess vor seine Haustür tritt, würde er am liebsten die Luft anhalten. Dabei lebt der 66-Jährige nicht etwa in Peking. Niess wohnt im Stuttgarter Kernerviertel etwa 400 Meter vom Neckartor entfernt. Hier wird deutschlandweit die höchste Schadstoffbelastung in der Luft gemessen.
Die ist an manchen Tagen gar nicht so weit von Pekinger Verhältnissen entfernt. „Sie merken das am Auswurf. Wenn Sie Fahrrad fahren unter Belastung, kommt so manches aus der Lunge raus, was vor 30 Jahren noch nicht aus der Lunge rausgekommen ist“, sagt Niess, der sich seit Jahren im Kampf gegen die Luftverschmutzung engagiert.
Die Messstation, die die Daten dazu liefert, ist ein unscheinbarer, grauer Betonwürfel. Mit seinen Fühlern und Rohren duckt er sich in den Schatten eines mehrstöckigen Wohnhauses direkt an der B 14. Täglich rauschen hier viele Zigtausend Autos und Lastwagen vorbei und pusten ihre Abgase in die Auffangbehälter und Sensoren. Seit Jahren werden die von der EU verordneten Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxid teilweise um ein Vierfaches überschritten.
Niess erzählt, er sei deswegen oft krank: „Wenn Sie in manchen Wintern vier Erkältungen haben und es dauert manchmal zwei bis drei Wochen, bis Sie sie loswerden, dann werden Sie schon ein klein wenig nachdenklich“, sagt er. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in einer 2013 veröffentlichten Studie herausgefunden, dass Menschen, die in Gebieten mit hoher Luftverschmutzung leben, häufiger an den Atemwegen und Diabetes erkranken oder einen Herzinfarkt erleiden. Auch Fehlgeburten sind auf die Schadstoffbelastung zurückzuführen. Jährlich sterben nach Angaben der Organisation mehrere Hunderttausend Menschen in Europa an den Folgen von Luftverschmutzung. Die WHO fordert deshalb die von der EU festgelegten Grenzwerte für Feinstaub und andere Schadstoffe deutlich nach unten zu setzen.
Doch in Stuttgart lassen sich selbst die höheren Grenzen kaum einhalten. Das Problem ist die besondere geografische Lage. Die Landeshauptstadt liegt in einer Vertiefung, einem Kessel, und ist von Hügeln umgeben. Bei besonderen Wetterverhältnissen, wie sie besonders im Winterhalbjahr auftreten, kann die schmutzige Luft nicht aus dem Kessel entweichen. „Dann hängt die warme Luft wie ein Deckel auf einem Einmachglas, und damit können die Schadstoffe nicht mehr nach oben weg“, erklärt Uwe Schickedanz vom Deutschen Wetterdienst.
Die Feinstaubwerte steigen deshalb regelmäßig über 80 Milligramm pro Kubikmeter Luft, erlaubt sind maximal 50. Allein von Januar bis April 2017 wurden die Grenzwerte an 37 Tagen überschritten. Dabei sind im ganzen Jahr nur 35 Überschreitungen zulässig. Doch nicht nur die Feinstaubwerte sind alarmierend, auch die Stickoxidbelastung ist deutlich zu hoch. Deutschland droht deshalb ein EU-Vertragsverletzungsverfahren.
In der Station des Deutschen Wetterdienstes auf dem Schnarrenberg, einer grünen Anhöhe, die sich mitten in Stuttgart über den Kessel erhebt, laufen die Daten der verschiedenen Messstationen zusammen. Mithilfe von Wetterprognosen versuchen der Meteorologe und sein Team vorherzusagen, ob und wann die Schadstoffbelastung in den kommenden Tagen wieder über die Grenzwerte ansteigt. „Regen ist der beste Kehrwisch“, sagt Schickedanz. Wenn der über mehrere Tage ausbleibt, kein Wind die Luftschichten durcheinander wirbelt und die Sonnenstrahlen nicht bis zum Boden durchkommen, dann ruft die Stadt Feinstaubalarm aus.
Eigenwillige Ansätze
Mit mäßigem Erfolg. Private Holzöfen, die durch andere Heizarten ersetzt werden können, dürfen nicht angefeuert werden. Pendler und Anwohner sollen an Tagen mit Feinstaubalarm eigentlich freiwillig ihr Auto stehen lassen und auf öffentliche Verkehrsmittel, Elektroautos oder Fahrräder zurückgreifen oder zu Fuß gehen. Tickets für Bus und Stadtbahn gibt es zum halben Preis. Trotzdem verzichtet kaum jemand auf seinen motorisierten Untersatz – mit entsprechenden Folgen für die Luft.
Die Stadt verfolgt deshalb weitere und zuweilen recht eigenwillige Ansätze, um die Schadstoffe aus der Luft zu bekommen. Rettung erhoffen sich die Verantwortlichen etwa von einer kleinen Pflanze: dem grauen Zackenmützenmoos. Entlang der B14 haben sie eine 100 Meter lange Mooswand errichten lassen, die den Feinstaub aus der Luft filtern soll. Zudem wurden Reinigungsunternehmen beauftragt, im Rahmen eines Pilotprojekts von Anfang März bis Mitte April mittels spezieller Verfahren den Staub von den Straßen zu waschen.
Mit einem Kilometer pro Stunde schleicht Christian Lange mit seiner Kehrmaschine nachts rund ums Neckartor. Wasserdüsen spülen mit hohem Druck den Dreck aus den Poren der Fahrbahn bevor alles wieder aufgesaugt wird. So soll verhindert werden, dass der Verkehr den Straßenstaub zu Feinstaub zermahlt. „Wenn wir jetzt in der Lage wären, drei, vier, fünf Mikrogramm zu reduzieren, wäre die Überschreitungshäufigkeit nicht gegeben“, sagt Jürgen Bachmann, der die Aktion von der Dekra koordiniert.
Tatsächlich wurden die Grenzwerte Anfang April trotz Feinstaubalarm nicht mehr überschritten. Ob das allerdings auf die Kehraktion oder das wärmere Wetter zurückzuführen ist, ist noch nicht klar.
Für Niess sind Maßnahmen wie diese reine Augenwischerei, die suggerieren, dass die Politik etwas unternehme. Tatsächlich seien entscheidende Dinge nicht angegangen worden. Der wahre Verursacher der Luftverschmutzung ist in seinen Augen die Automobilindustrie, die viel zu lange und geschützt von der Politik auf veraltete Antriebe setzte. Seit 2005 zieht Niess deshalb gegen das Land vor Gericht – mit Erfolg. 2016 erzielte er gemeinsam mit einem anderen Bürger einen Vergleich, in dem sich Stadt und Land verpflichten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um Grenzwertüberschreitungen in Zukunft zu verhindern. In Niess’ Augen gibt es dafür nur zwei Möglichkeiten: „Entsprechende Veränderungen im Antrieb, damit keine Abgase rauskommen, oder die Reduzierung des Verkehrs.“
Auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat 2016 beim Verwaltungsgericht Stuttgart und in mehreren anderen deutschen Städten Klage eingereicht. Sie fordert die sofortige Einhaltung der Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide. Mehrere Gerichte wie das Verwaltungsgericht Düsseldorf haben bereits zugunsten der DUH entschieden. Die Stuttgarter Richter forderten die Landesregierung auf, konkrete Maßnahmen zur Schadstoffreduzierung zu nennen.
Fahrverbote, wie sie die grünschwarze Landesregierung für Stuttgart beschlossen hat, oder gar die bundesweite Einführung einer blauen Plakette, um die die Verkehrsminister der Länder derzeit noch ringen, erscheinen da als letzter Ausweg. Der unter großem Zähneknirschen beim Koalitionspartner CDU ausgearbeitete Kompromiss sieht vor, dass ältere Dieselfahrzeuge, die die Abgasnorm Euro 6 nicht erfüllen, von 2018 an an Tagen mit hoher Schadstoffkonzentration nicht mehr in besonders belastete Bereiche der Stuttgarter Innenstadt fahren dürfen. Davon betroffen sind auch wenige Jahre alte Dieselfahrzeuge – sehr zum Ärger der Besitzer, die sich nach Jahrzehnten des Dieselhypes betrogen fühlen.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) wirft der Politik Aktionismus vor. „Der Diesel hat kein Feinstaubproblem“, heißt es in einer Erklärung. Vielmehr sei er in Sachen CO2-Bilanz dem Ottomotor sogar überlegen und deshalb wichtig, um Klimaschutzziele zu erreichen. Die Opposition sprach im Landtag sogar von einer Enteignung der Dieselfahrer. Autohersteller suchen deshalb fieberhaft nach einer Möglichkeit, ältere Diesel mit abgasreinigenden Systemen nachzurüsten. Was anfangs ausgeschlossen schien, scheint technisch nun doch möglich. Allerdings ist unklar, wer die Kosten dafür trägt.
Wirtschaftsvertreter sehen mit einem Fahrverbot bereits Arbeitsplätze und ganze Unternehmen im Automobil- und Dieselerfinderland Baden-Württemberg in Gefahr. Kritiker bezweifeln zudem, dass ein Dieselfahrverbot effizient kontrolliert werden könnte, da die Abgasnorm lediglich über die Fahrzeugpapiere und damit kaum im fließenden Verkehr festgestellt werden kann. Landesvater Winfried Kretschmann (Grüne) rudert unter der andauernden Kritik inzwischen zurück und sieht das Fahrverbot nicht in Stein gemeißelt.
Auch Vizeregierungschef Thomas Strobl (CDU) betonte am Donnerstag in Stuttgart, dass er die Fahrverbote nur als Ultima Ratio sehe, wenn keine andere Möglichkeit gefunden werde.
Tatsächlich sind nach Untersuchungen der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW), Abrieb und Aufwirbelungen von Reifen und Bremsen für Feinstaub verantwortlich, also neben Dieselfahrzeugen auch Benziner und Elektroautos. Allerdings gelten ältere Diesel, die noch nicht mit einer speziellen Harnstoff-Technik, dem sogenannten AdBlue, ausgestattet sind, als Hauptverursacher für Stickoxide. Deshalb ist das Dieselfahrverbot in den Augen von Umweltschützern nicht etwa falsch, sondern vielmehr ein erster Schritt in Richtung einer generellen Reduzierung des Verkehrs.
Niess hat vor zehn Jahren das Klimaund Umweltbündnis mitgegründet und kämpft weiter für saubere Luft und mehr Lebensqualität für sich und seine Nachbarn. Er hat für Stuttgart die klare Vision einer weitgehend autofreien Stadt. Taxis, Fahrzeuge der Müllabfuhr und Busse würden mit Gas-Hybrid-Antrieb fahren. Rund um die Stadt müssten noch mehr Park-and-Ride-Plätze entstehen und auch die Güter könnten am Stadtrand auf Elektrofahrzeuge umgeladen werden. Der öffentliche Nahverkehr würde ausgebaut, das Stadtzentrum wäre allein Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. „Wenn die Leute es nicht erleben können, wie eine Stadt ohne Autos ist, können sie gar nicht begreifen, wie wichtig das für die Lebensqualität hier in der Stadt ist.“
Er selbst fährt jeden Tag Fahrrad. Das ist für den 66-Jährigen nicht nur eine Freizeitbeschäftigung, sondern ein wichtiges Verkehrsmittel. „Früher wurde immer gesagt, das geht nicht. Stuttgart hat Hügel, da kann man nicht mit dem Fahrrad fahren“, erzählt er. „Aber mit Pedelecs ist das gar kein Problem.“
Von Journalisten wird er immer wieder gefragt, warum er nicht einfach wegziehe. Das macht den Rentner fassungslos: „In der Logik bedeutet das, dass die Leute wegziehen sollen, damit andere mit ihren giftigen Autos in die Stadt fahren können. Das ist für mich nicht nachvollziehbar.“
„Dann hängt die warme Luft wie ein Deckel auf einem Einmachglas, und damit können die Schadstoffe nicht mehr nach oben weg.“
Uwe Schickedanz vom Deutschen Wetterdienst über besondere Wetterlagen im Stuttgarter Kessel „Wenn die Leute es nicht erleben können, wie eine Stadt ohne Autos ist, können sie gar nicht begreifen, wie wichtig das für die Lebensqualität hier in der Stadt ist.“
Manfred Niess, der sich für saubere Luft einsetzt