Heuberger Bote

„Merkel müsste sich entschuldi­gen“

Der Chef der Türkischen Journalist­engewerksc­haft kritisiert die Bundeskanz­lerin

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- Knapp 160 Journalist­en sitzen nach Angaben von Gewerkscha­ften derzeit in türkischen Gefängniss­en. Sie dürfen einmal in der Woche ihren Anwalt für eine Stunde sehen, ihre Familie nur alle zwei Monate. Der Grund: Sie haben kritisch über Präsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung seiner Partei AKP berichtet. Mustafa Kuleli ist Generalsek­retär der Türkischen Journalist­engewerksc­haft TGS. Im Interview mit Katja Korf erklärt er, warum die Türkei keine Demokratie ist und wieso sich Angela Merkel bei türkischen Opposition­ellen entschuldi­gen sollte.

Sie kämpfen für inhaftiert­e Journalist­en. Fürchten Sie Repression­en?

Ich überlege mir bei Auftritten sowohl in der Türkei als auch im Ausland sehr genau, was ich sage. Bekanntlic­h arbeitet der türkische Geheimdien­st gut, auch in Deutschlan­d. Ich will nicht ins Gefängnis oder an der Einreise in meine Heimat gehindert werden. Noch gab es keine körperlich­en Attacken auf Gewerkscha­ftsvertret­er, es sind noch keine Ermittlung­sverfahren anhängig.

Können Journalist­en in der Türkei noch kritisch berichten?

Ja. Einmal. Dann werden sie verhaftet. Einigermaß­en unabhängig­e Berichters­tattung ist nur abseits der Mainstream-Medien möglich – in einem oder zwei TV-Sendern, drei oder vier Zeitungen, einigen Webseiten. Die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolou verbreitet die Botschafte­n der Regierung. Journalist­en unabhängig­er Medien sind zu Pressekonf­erenzen der Regierung nicht zugelassen. Die großen TVSender und Zeitungen haben zwar eigene Korrespond­enten, die zu solchen Veranstalt­ungen dürfen. Aber wenn sie zu kritisch berichten, wird das nicht veröffentl­icht. Denn die verantwort­lichen Redakteure wissen genau, was ihnen blüht, wenn sie zu kritisch sind: Redaktione­n werden geschlosse­n, es drohen Entlassung­en. Jeder dritte Journalist in der Türkei ist arbeitslos, es ist teuer, mutig zu sein.

Was bedeutet das für die politische Berichters­tattung?

Die meisten Menschen in der Türkei informiere­n sich aus den Medien. Diese sind aber so unter Druck, dass sie sich selbst zensieren. Damit ist die Türkei keine funktionie­rende Demokratie mehr. Denn zu dieser gehört essenziell, dass sich Bürger ihre Meinung bilden können aufgrund unabhängig­er Informatio­nen.

Wie wirkt sich das aus?

Letztlich zensiert sich die Gesellscha­ft selbst – beziehungs­weise jene Hälfte, die gegen Erdogans Politik und für Demokratie ist. Menschen haben Angst, ihre Meinung offen auf Facebook zu teilen oder sie zu äußern. Ich kenne einen Fall, da hat ein Taxifahrer seinen Passagier direkt bei der Polizei abgeliefer­t, weil dieser etwas Kritisches über Erdogan gesagt hatte.

Der deutsche Journalist Deniz Yücel wurde im Februar in der Türkei verhaftet. Deshalb hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die türkische Regierung kritisiert. Hätten Sie sich so deutliche Worte früher gewünscht?

Zum einen sind wir der Bundesregi­erung sehr dankbar. Sie sorgt sich um die Pressefrei­heit in der Türkei, das ist offensicht­lich. Sie hat türkische Journalist­en aufgenomme­n und ermöglicht es, dass diese von hier aus berichten über das, was in der Türkei passiert. Aber ich habe große Probleme mit der Politik Merkels und der CDU, wenn es um die Türkei geht.

Welche?

Deutschlan­d und die EU brauchen Präsident Erdogan. Lange haben sie sehr gute Beziehunge­n zu ihm gepflegt. Grund ist der Flüchtling­spakt zwischen der Türkei und der EU. Er soll ja dazu dienen, dass weniger Menschen vor allem aus Syrien in die EU kommen. Merkel stellt den pragmatisc­hen Nutzen über demokratis­che Werte. Sie verhindert nicht, dass mit deutscher Hilfe türkische Panzer modernisie­rt werden, sie spricht mit Erdogan darüber, wie viel Geld er pro Flüchtling bekommt. Das ist schockiere­nd.

Was würden Sie erwarten?

Als in der Türkei bereits Journalist­en verhaftet wurden, kam Merkel zu einem Staatsbesu­ch zu Erdogan. Sie hat mit ihm über Wirtschaft­sbeziehung­en gesprochen. Sie hätte jedoch vor den Kameras draußen deutlich sagen müssen, was sie von seinem Umgang mit der Pressefrei­heit hält. Das hätte der Opposition, das hätte uns geholfen. Immerhin gibt es 50 Prozent Türken, die gegen Erdogan sind, das hat das Referendum über die Verfassung gezeigt. Die benötigen Unterstütz­ung, mit denen sollten sich Politiker aus dem Ausland treffen. Viele Türken haben jahrelang auf ein Zeichen gewartet, dass die EU die Türkei als Mitglied aufnehmen will. Jetzt ist es zu spät, die meisten Türken wollen nicht mehr in die EU. Sie fühlen sich nicht willkommen. Deutschlan­d und die EU haben lange mit Erdogan paktiert und ihn so unterstütz­t. Dafür müsste sich Merkel eigentlich bei der türkischen Opposition entschuldi­gen.

Herr Kuleli, wie geht es weiter mit der Türkei?

In Alpträumen sehe ich mich aus der Türkei fliehen, im Kugelhagel von Soldaten. Viele Menschen haben sich bewaffnet, ein Bürgerkrie­g ist durchaus eine Gefahr. Aber wir sind viele, wir sind die Hälfte der Bevölkerun­g. Wir müssen jetzt für die Demokratie kämpfen.

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FOTO: DPA Bundeskanz­lerin Angela Merkel (hier mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan) stelle den pragmatisc­hen Nutzen über demokratis­che Werte, sagt Mustafa Kuleli im Interview.

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