Das Herz Walloniens schlägt für den Comic
Ob Schlümpfe oder „Schwermetall“– die Belgier begeistern sich für die neunte Kunstform
Kleine, blaue Fußspuren weisen den Weg und führen den Besucher in das helle Dachgeschoss: Hier kann man die Geburtsstunde von blauen Wichteln mit weißen Zipfelmützen miterleben. Die Rede ist von den Schlümpfen. Ihnen und ihrem Schöpfer „Peyo“ist erstmals eine große Retrospektive in Belgien gewidmet.
Unser kleines Nachbarland ist bekannt für köstliche Schokolade, süffiges Bier und leckere Pommes frites, doch meist wird vergessen, dass es zudem eine Hochburg für Comics ist. „Die Schlümpfe“, „Tim und Struppi“, „Lucky Luke“– das sind nur einige der bekanntesten gezeichneten Figuren, die von dort stammen. Warum die Belgier sich derart für Comics begeistern? Dafür gibt es zahlreiche Erklärungsversuche: Beispielsweise, weil ihr Land immer wieder besetzt wurde und Comics oft die einzige Möglichkeit waren, den Unmut gegen die Besatzer auszudrücken. Oder dass Comics in Belgien deshalb so populär wurden, weil die katholische Kirche diese als Lehrmittel einsetzte. Was nun stimmt, spielt aber keine Rolle. Denn die Belgier sind so oder so stolz auf ihr grafisches Erbe: Davon zeugen Museen und Ausstellungen – auch abseits des berühmten Comic Museums und des Comic Walks in Brüssel, zum Beispiel in der Region Wallonien.
Schlümpfe begeistern sofort
Dort ist in einem eindrucksvoll hergerichteten Gutshof nahe des Ortes Terhulpen/La Hulpe die Fondation Folon untergebracht, die Belgiens berühmtesten Grafiker und Illustrator, Jean-Michel Folon, gewidmet ist. In einem Trakt ist die Peyo-Ausstellung untergebracht. Der chronologische Rundgang legt zwar einen Schwerpunkt auf seine bekanntesten Schöpfungen, den „Schlümpfen“, widmet sich aber erfreulicherweise auch den anderen Figuren von Pierre Culliford, wie Peyos bürgerlicher Name lautet. So findet man hier die ersten Skizzen des Autodidakten, der ein großes Faible für Fantasy- und Mittelaltergeschichten hatte und mit „Johann und der Pfiffikus“bekannt wurde. In der Episode „Die Schlümpfe und die Zauberflöte“tauchen dann zum ersten Mal die blauen Wichte auf – und entzückten sofort Tausende von Lesern. Neben Originalzeichnungen finden sich in der Ausstellung ebenso Trickfilme. Denn ihnen verdanken die Schlümpfe ihren Siegeszug: Neun Staffeln lang flimmerten sie in den 1980er-Jahren über die Bildschirme – der damalige NBCChef soll die Zeichentrickserien nur deshalb in Auftrag gegeben haben, weil seine Tochter ihren Plüschschlumpf heiß und innig liebte.
Peyo gilt heute als herausragender Geschichtenerzähler. Das verdankt er seinem großen Idol Hergé, dessen klare Linienführung er sich zum Vorbild nahm. Das Besondere an dieser „ligne claire“– ein von Hergé erschaffener Comicstil mit klaren Konturen ohne Schraffierungen oder Schattierungen – kann man knapp 20 Kilometer entfernt in der Universitätsstadt Louvain-la-Neuve besichtigen. Dort steht das bislang einzige Museum der Welt, das sich ausschließlich auf einen einzigen Comiczeichner konzentriert: Georges Prosper Remi, bekannt als Hergé, Schöpfer von „Tim und Struppi“.
In dem architektonisch eindrucksvollen Hergé-Museum finden sich auf rund 3600 Quadratmetern zahlreiche Originalzeichnungen, Erstdrucke, Skizzen, Modelle, Titelblätter und Filme, aber auch persönliche Gegenstände Hergés. Hier erfährt der Besucher beispielsweise, wer als Vorlage von Kapitän Archibald Haddock diente, wie sehr Filme und fremde Kulturen Hergé inspirierten und wie fasziniert der Comiczeichner von Wissenschaft und Technik war und deshalb versuchte, die Erfindungen von Professor Balduin Bienlein so realitätsgetreu wie möglich nachzuzeichnen. Unterstützt wird der gründliche Einblick in Hergés Leben und Wirken durch das lichtdurchflutete bunt-fröhliche Interieur des Museums, deren einzelne Einheiten in pastelligen Grundfarben gestrichen sind und dem Besucher so das Gefühl vermitteln, sich inmitten eines ComicAbenteuers von Hergé zu befinden.
Der Comic wird erwachsen
Eine Fantasie, der man schnell entfliehen möchte beim Betrachten eines riesigen, schädelgleichen Gebäudes, dessen großer Rachen furchterregend wirkt: Das Bild aus dem Comic „Gail“von Philippe Druillet – zur Zeit in der Ausstellung „Révolution bande dessinée“in Lüttich – hat beileibe nichts Kindliches mehr. Soll es auch nicht: Denn in den 1970er-Jahren revolutionierten die beiden franko-belgischen Zeitschriften „Metal Hurlant“und „(A Suivre)“die Neunte Kunst, wie Comics seit 1970 eingeordnet wurden. Die Künstler wollten die Zeichnungen und ihre Geschichten von sämtlichen Zwängen und Zensuren befreien, wollten alle Themen ansprechen dürfen – der Comic sollte erwachsen werden und ein reiferes Publikum ansprechen.
Wer in der pulsierenden Metropole am Zusammenfluss von Ourthe und Maas die Stadtquartiere mit ihren ganz unterschiedlichen Charakteren erkundet, die eindrucksvolle Kathedrale Saint-Paul besichtigt und einen Café Liégeois mit den berühmten Lütticher Waffeln genossen hat, der sollte im Kunstmuseum „La Boverie“die über 300 Panels aus den zwei Magazinen besichtigen, die von den herausragendsten Zeichnern und Autoren dieser Epoche wie Moebius oder Philippe Druillet stammen. Sie haben lange bevor der Begriff Graphic Novel aufkam mit ihren gezeichneten Geschichten zahlreiche Autoren und Filmemacher inspiriert, zum Beispiel zu „Blade Runner“oder „Alien“.
Peyo – eine Retrospektive, bis 27. August 2017 in der Fondation Folon in La Hulpe/Terhulpen; www.fondationfolon.be.
Musée Hergé in Louvain-laNeuve, www.museeherge.com.
Révolution bande dessinée:
Métal hurlant et (A Suivre) bis 11. Juni 2017 in La Boverie in Lüttich; www.laboverie.com. Die Recherche wurde unterstützt von Belgien-Tourismus Wallonie.