Die „Lieben“gegen die „Bösen“
Kein normaler Sport: Wrestling-Superstars aus den USA bieten beim WWE-Event in Stuttgart eine spektakuläre Show
STUTTGART - Gepflegt, gut duftend, höflich. Mit je einem glitzernden Steinchen an den Ohrläppchen, einem Brocken von Uhr am linken Handgelenk und einem sympathischen Lächeln sitzt Apollo Crews, so sein Künstlername, der Presse gegenüber. 110 Kilogramm Körpergewicht verteilen sich auf 185 Zentimeter Körpergröße. Seine Muskeln verstecken sich unter einem ordentlich gebügelten weißen Hemd mit feinen blauen Linien.
Sesugh Uhaa, wie der 29-Jährige im richtigen Leben heißt, duftet nach Business, sein Parfüm füllt das ganze Zimmer eines Stuttgarter Hotels aus. Keine Spur von Raufereien oder Schlägereien. Seine Glatze und seine kraftvollen Hände sind eingecremt. Kein von Gewalt getriebener Rocker sitzt da aufrecht im Stuhl, sondern ein Vater einer kleinen Tochter, die er wegen seines Jobs nicht oft zu sehen bekommt. „Wir reisen wöchentlich um die ganze Welt. Meine Zeit zu Hause ist begrenzt, aber ich kann das machen, was ich schon immer tun wollte“, sagt der US-Amerikaner mit nigerianischen Wurzeln. „Ich lebe meinen Traum“– Wrestling.
Drei Stunden später gibt es Sesugh Uhaa nicht mehr. Es gibt nur noch Apollo Crews, den Wrestler, der beim börsennotierten Medienunternehmen World Wrestling Entertainment (WWE) unter Vertrag steht. Knapp 6000 Menschen schreien in der nicht ganz ausverkauften Porsche-Arena seinen Namen: „Apollo! Apollo! Apollo!“Sesugh Uhaa trägt jetzt auch kein Hemd mehr. Fast nackt steht er in der Hallenmitte, seine Haut glänzt, die Scheinwerfer sind auf ihn gerichtet. Mit seiner gigantischen Rückenmuskulatur sieht er schon fast aus wie Quasimodo. Kraftpaket. Apollo steht im Ring, bekleidet mit einem engen, knallbunten Slip, Schuhen und knallbunten Stutzen, die bis zu den Knien
reichen. Mit ihm stehen noch sieben weitere Wrestler im Rampenlicht des Rings, das sogenannte „Eight Man Tag Team Match“steht an, insgesamt acht Matches gibt es.
Doch die Ringglocke hat noch gar nicht geläutet, der Kampf noch nicht begonnen, da hat der Ringrichter schon Probleme, die vier gegen vier kämpfenden Streithähne auseinanderzuhalten. Team „Gut“gegen Team „Schlecht“, die „Lieben“gegen die „Bösen“. Die Rollen sind klar verteilt. Apollo Crews, Kalisto und The Golden Truth gegen Bo Dallas, Curt Hawkins, Curtis Axel und Titus O’Neil. Die Fans sind ungeduldig, es ist laut. Die Glocke läutet. It’s showtime! Die Massen zücken ihre Smartphones und filmen das Spektakel. Die Wrestler ziehen sich an den Haaren, werfen sich auf den Boden, aus dem Ring und wieder in den Ring zurück. Wird ein Wrestler so dingfest gemacht, dass er mit der Schulter auf der Matte liegt, zählt ihn der Ringrichter an. Die Halle zählt mit. Oft geht es wieder weiter. Doch irgendwann schreien alle: „Drei!“Die Glocke läutet. Die Massen strömen zum Ring, reißen die Hände hoch, ihre Vorbilder haben gesiegt. Die Athleten lassen sich feiern.
„Ich und vermutlich alle von uns lieben es, vor Tausenden Menschen zu performen“, sagt Apollo. Und er sagt bewusst „performen“– und nicht catchen, ringen oder schlägern. „Viele denken, das kann jeder, aber das ist nicht so einfach.“Als Apollo noch nicht geboren, Sesugh Uhaa aber schon ein kleiner Junge war, schaute sein Vater immer Wrestling im Fernsehen an. Das machte ihn „süchtig, abhängig“. Im Alter von 16 Jahren habe er sich dann dazu entschlossen, fürs Wrestling richtig zu trainieren. Die ersten beiden Trainingswochen sollen die härtesten in seinem Leben gewesen sein, erzählt er: „Fürs Wrestling musst du ein bestimmter Typ sein, du hast eine bestimmte Verpflichtung.“
Denn die Zuschauer in der Halle, aber auch zu Hause vor dem TV-Gerät wollen unterhalten werden. „Sportentertainment“, nennt es Apollo. Dazu zählen auch Frauen, die beim Kämpfen Amazonen gleichen. Das Raufen in und manchmal auch außerhalb des Rings ist zwar Schauspielerei, die Schläge werden nie mit voller Wucht ausgeteilt. Doch auch wenn die Dramaturgie, die Rollenverteilung sowie das Ende des Kampfes meist immer vorgegeben sind, Verletzungen und Blessuren gibt es trotzdem. Denn wer wie Austin Aries vom obersten Ringseil einen Vorwärtssalto macht, und dann auf einem am Boden liegenden Wrestler landet, den er nicht ernsthaft verletzen will und sollte, der muss koordinativ sowie konditionell einiges auf dem Kasten haben. Ob das dann Sport ist, hängt von der Definition ab. Athletik ist es allemal. Das musste auch Marcel Nguyen, deutscher Nationalturner vom MTV Stuttgart und Gast beim WWEEvent, anerkennen: „Wenn man bedenkt, dass die Jungs so groß und so schwer sind, ist dies durchaus eine ansprechende Leistung.“
Und zu all der Physis kommt auch noch die Psyche hinzu – die Interaktion
mit dem Publikum. Die Guten werden bejubelt, die Menge macht „Yeah!“. Die Bösen werden ausgebuht. „Du musst im Gefecht herausfinden, was die Menschen wollen“, sagt Wrestler Titus O’Neil. Dazu gehören auch dumme Sprüche Richtung Zuschauer oder die Imitation von anderen, gegnerischen Wrestlern, um sich über sie lustig zu machen, sie zu provozieren. Entertainment eben, fiktives Entertainment. Das spätestens seit dem Wahlkampf von US-Präsident Donald Trump auch unter dem Begriff postfaktisch bekannt ist. Trump ist WrestlingFreund. Er stand sogar schon mal im Ring und war auch in der Hall of Fame des WWE, dessen Aktie nach der Wahl Trumps um fünf Prozent stieg.
Mit Emotionen, Sympathien und Antipathien – egal ob gespielt, wahr oder falsch – lässt sich wie im Wrestling ein Millionenpublikum fesseln, begeistern, lenken.
Allerdings ist Wrestling in den USA auch deutlich beliebter als hierzulande. Wrestling ist dort riesig, ein Volkssport, um ein Vielfaches grö- ßer als in Deutschland. Dennoch waren beim WWE-Event am Donnerstag in Stuttgart immerhin knapp 6000 Menschen da. Viele Deutsche hätten jedoch gar keine Ahnung, was Wrestling überhaupt ist, behauptet Paul Reim aus Freudenstadt. Man würde zwar Actionfilme schauen, wo Blut spritze, aber Wrestling werde abgelehnt, sagt er. Dabei seien Wrestler „sportlich“, „Performer“: „Das ist einfach kein so ein normaler deutscher Sport.“Zusammen mit drei Freunden ist der 27-Jährige aus Freudenstadt angereist – darunter auch eine Frau. „Die Harmonie zwischen den Mitstreitern muss auch zeitlich perfekt abgestimmt sein“, sagt Maren Brandt. Die Studentin hat sich von ihrem Vater anstecken lassen, der früher Wrestling angeschaut habe. Inzwischen findet sie es auch „interessant“. Live vor Ort und mit einer Tüte Popcorn in der Hand haben sie es alle vier noch nie gesehen, eben nur im Fernsehen. Am meisten begeistert sie die Show, die Musik, kurzum „das Flair“.
Zum Flair gehören aber auch Faustschläge, Tritte und Kopfstöße. Gewalt wird zum Erlebnis. Gewalt wird bejubelt. So muss es ja auch sein, so ist es gewollt. Nicht ohne Grund haben Kinder unter sechs Jahren zur Veranstaltung keinen Zutritt und bis zum zwölften Lebensjahr dürfen sie nur in Begleitung Erwachsener dabei sein. Der neunjährige Isa aus Ludwigsburg wollte unbedingt mit zwei Freunden hingehen, die beide schon das Mindestalter erreicht haben. Da kamen die neugierigen Väter der Kids auf die Idee, mitzugehen. Sie selbst haben Wrestling auch noch nie live gesehen. „Als Kinder hätten wir es auch geschaut“, sagen sie.
Mit dem Ex-Fußballnationaltorwart Tim Wiese soll es – wenn es nach ihm geht – bald auch einen deutschen Vertreter in der WWE geben. Bislang gibt es mit dem Schweizer Cesaro, der eigentlich Claudio Castagnoli heißt, immerhin einen WWE-Mann, der Deutsch spricht. The Machine, wie sich Wrestler Wiese nennt, würde ebenfalls gerne in den Ring der besten Wrestler-Liga der Welt steigen. Ein WWE-Trainingslager hat er schon absolviert, ein weiteres Angebot seitens des WWE habe es nach einem Kampf in München zwar gegeben, es habe sich aber danach niemand mehr bei ihm gemeldet. In Stuttgart waren Fragen zur Causa Wiese nicht gestattet.
„Du musst im Gefecht herausfinden, was die Menschen wollen.“
Wrestler Titus O’Neil „Viele denken, das kann jeder, aber das ist nicht so einfach.“
Wrestler Apollo Crews