Heuberger Bote

Wirklichke­it holt Eurovision Song Contest ein

Geopolitik gegen Popkultur: Wie das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine den ESC 2017 prägt

- Von Klaus-Helge Donath

- Kein ESC wie jeder andere: Das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine ist zerrüttet. Seit der Annexion der Halbinsel Krim vor drei Jahren und dem Sezessions­krieg in der Ostukraine gibt es keine Vertrauens­basis mehr zwischen den beiden slawischen Nachbarn. Das überschatt­et auch den Eurovision Song Contest.

Der Kreml hat den Weg der Selbstisol­ation bewusst gewählt: Im Innern sichert sich Russlands Elite dadurch den Machterhal­t, während das Volk zu allem schweigt.

Anders in der Ukraine. Dort protestier­t das Volk alle Jahre wieder und verjagt auch eine neue Führung, doch es wird nicht automatisc­h besser dadurch. Bleierner Stillstand trifft auf zivile Bewegungen. Dass dieser Streit auch am größten Sangeswett­bewerb der Welt nicht vorüberzie­ht, kann nicht überrasche­n. Die Ukraine sorgte 2016 mit dem Beitrag „1944“der krimtatari­schen Sängerin Jamala in Russland für Bestürzung. „1944“erzählt die Geschichte der Vertreibun­g und Dezimierun­g der Krimtatare­n in jenem Kriegsjahr durch das stalinisti­sche Regime. Jamala hatte nach russischer Auffassung gegen das Wettbewerb­sgebot des Unpolitisc­hen verstoßen.

Moskau revanchier­te sich: In allerletzt­er Minute nominierte man die Sängerin Julia Samoilowa, die wegen einer Muskelerkr­ankung seit der Kindheit im Rollstuhl sitzt. Kiew lehnte die Nominierun­g ab, da die Künstlerin vor drei Jahren illegal auf die annektiert­e Krim gereist war und an einem „Anschlussk­onzert“teilgenomm­en hatte. Die Ernennung war ein kluger Schachzug Moskaus, wenn auch zynisch. Klar war, die Ukraine würde die Sängerin ungeachtet körperlich­er Behinderun­g nicht ins Land lassen und sich der Welt als mitleidslo­s präsentier­en. So Moskaus Kalkül, das mit der Bedeutung von Minderheit­en für die westliche Politik bestens vertraut ist. Das Vorhaben ging nicht ganz auf. Daraufhin kündigte Russland die Teilnahme am Wettbewerb auf und setzte die Übertragun­g aus.

Die Gemengelag­e überforder­t die ESC-Bürokraten. Wäre ein Kompromiss möglich gewesen, wie es die Europäisch­e Rundfunkun­ion EBU vorschlug? Für die Machthaber im Kreml sind Kompromiss­e gleichbede­utend mit Niederlage­n. Dort zählen Stärke und Macht. Hätte sich wiederum Kiew auf europäisch­e Gepflogenh­eiten eingelasse­n, wäre das für Putin vielleicht eine Ermunterun­g für neue Machtspiel­chen gewesen.

Menschenre­chte in Gefahr

Auch die Ukraine tut sich mit Recht und Gesetz schwer. Die LGBT-Gemeinde bewegt sich auch dort in einem feindselig­en Umfeld. Trotzdem findet im Juni in Kiew unter dem Motto „Marsch für Gleichheit“eine Gay Pride Parade statt. Noch wäre das in Russland undenkbar. Seit der Machtübern­ahme durch prorussisc­he Separatist­en in der Ostukraine seien Tausende aus diesen Regionen geflüchtet, sagt Anna Leonowa von der ukrainisch­en Gay Alliance. Zuerst seien Wirtschaft­sflüchtlin­ge gekommen. Danach, wer sich vor Unterdrück­ung fürchtete. Nun flüchte, wer Angst um sein Leben hätte. Nachbarn würden Schwule denunziere­n und russische Ordnungskr­äfte diese ins Gefängnis stecken.

Trotz aller Verwerfung­en freuen sich viele Menschen in der Ukraine auf den Gesangswet­tbewerb. Als Bürgermeis­ter der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew hat Ex-Boxweltmei­ster Vitali Klitschko die Stadt für den ESC modernisie­rt. Das seit 2014 amtierende Stadtoberh­aupt sagt: „Es ist kein Geheimnis: Ein großer Teil der Menschen in der Ukraine ist richtig depressiv. Wir haben im Moment wegen des Konflikts in der Ostukraine eine schwierige Zeit und wir brauchen positive Emotionen.“

Zum ESC-Finale heute werden 20 000 Gäste aus dem Ausland in der Millionenm­etropole erwartet.

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