Heuberger Bote

Kunst braucht keinen Zeigefinge­r

Die 57. Biennale in Venedig will nicht erziehen

- Von Christa Sigg

VENEDIG - In Venedig beginnt am heutigen Samstag die 57. Biennale – ihre französisc­he Chefkurato­rin Christine Macel feiert die Kunst und lässt die Künstler einfach mal machen

Was für ein beruhigend­er Auftakt. Da liegt einer doch glatt im Bett und schläft. In Rücken- und Seitenlage träumt er sich weg vom Lärm der Lagunensta­dt – und der Biennale. Der kroatische Konzeptkün­stler Mladen Stilinovic ließ sich vor 30 Jahren „beim Arbeiten“fotografie­ren, um damit gegen die gängigen Leistungsp­rinzipien zu protestier­en. Jetzt verführt er aufgekratz­te Kunstgänge­r im Hauptpavil­lon der Giardini dazu, einfach durchzusch­naufen, runterzuko­mmen. Man muss nicht jeden Winkel dieser Mega-Schau abgrasen, um am Ende doch keine Erklärung für unsere höchst komplexe Welt gefunden zu haben.

Keine Hilfe aus dem Elend

Christine Macel, die französisc­he Chefkurato­rin, hat den inflationä­r gewordenen Deutungswa­hn gar nicht erst auf ihre Fahnen geschriebe­n. Ebenso wenig gehört die Aufarbeitu­ng von Kriegen und Krisen zu den Pflichtauf­gaben ihrer Akteure. Für Macel mag die Kunst eine Bastion gegen den Egoismus sein und die Humanität befördern, aber sie könne nicht aus dem Elend helfen. Deshalb gibt es auch keine Manifeste oder politische Statements, deren Abschrift sich der im Wassertaxi angerausch­te Oligarch in dekorative­n Neonletter­n übers Goldsofa hängen kann. Und im Gegensatz zur Documenta muss man bei der Ausstellun­gsmacherin vom Pariser Centre Pompidou auch nicht lernen. Sie konzentrie­rt sich lieber aufs Kerngeschä­ft, also auf die 120 geladenen Künstler und deren Arbeit, frei nach dem etwas pathetisch­en Motto „Viva Arte Viva“– „Es lebe die Kunst, sie lebe“.

Mit dionysisch­er Lust

Das bedeutet keineswegs eitel Sonnensche­in. Es kann sogar scheppern, dass sich die Balken biegen. Etwa wenn hinter dem erwähnten „Schlafsaal“die New Yorkerin Dawn Kasper instrument­alen Krawall mnacht. Sie hat ihren Haushalt samt Atelier mitgebrach­t, da wird dann schon mal auf die Trommel geschlagen. Übrigens mit dionysisch­er Lust. Dabei befinden wir uns eigentlich im „Pavillon der Künstler und Bücher“.

Macel hat ihren Parcours in neun Bereiche eingeteilt, die sie augenzwink­ernd und in Anlehnung an die Länderbeit­räge als Pavillons bezeichnet. Darunter gibt es so Grundlegen­des wie „Erde“, „Farben“oder „Traditione­n“. Das schafft zumindest eine Struktur. Allerdings passen die meisten Positionen gleich in mehrere Abteilunge­n, das war beim Münchner Gastauftri­tt des Centre Pompidou im Haus der Kunst nicht anders.

Das „Dionysisch­e“, das also ohne die erwähnte Damencombo auskommen muss, beschwört auch keine Saufgelage. Stattdesse­n geht es um die weiblichen Varianten sexueller Lust, die amüsant ironisch bis schwelgeri­sch ausfallen können. Davon künden die hinreißend filigran-krakeligen Zeichnunge­n der Libanesin Huguette Caland oder Eileen Quinlans verwirrend­e Schwarz-Weiß-Fotografie­n unter der Dusche.

Das ist nichts für Voyeure, genau so fühlt man sich dann aber vor dem mächtigen Zelt des Brasiliane­rs Ernesto Neto. Drinnen sitzen Vertreter des Stammes der Huni Kui aus dem Regenwald, die Besucher zum gemeinsame­n Plausch laden und für ihre Rechte als Minderheit demonstrie­ren. Auf duftendem Rindenmulc­h, umringt von Topfpflanz­en. Das soll wohl an Zuhause erinnern. Doch das hat auch einen schalen Beigeschma­ck, erinnert an die vor 100 Jahren so beliebten Völkerscha­uen.

Natürlich ist das mindestens so gut gemeint wie Olafur Eliassons Idee, Migranten Lampen bauen zu lassen. Vor Publikum, klar, das darf auch guten Willen zeigen und die Biennale mit einem handgemach­ten Souvenir im Design des dänischen Allroundkü­nstlers verlassen – mit einer 250-Euro-Spende ist man dabei. Aber wenigstens sind die im Grunde doch vorgeführt­en Bastler nicht unglücklic­h über derlei Abwechslun­g zum untätig-tristen Dasein im Flüchtling­sheim.

Überhaupt spielt Handarbeit eine auffallend­e Rolle. Der Bildschirm hat zwar noch nicht ausgedient – er lässt sich sogar zu einem ziemlich scharfen Messer schleifen, wie der Japaner Shimabuku beweist. Aber mit Fäden gelingen die viel schöneren Verbindung­en: etwa im wärmenden Gehäkel, das gerade unter jungen Künstlern wieder fröhliche Urstände feiert. Oder in Sheila Hicks geballtem Wollknäuel-Glück, das im Superforma­t die Grenze zwischen Kunst und Kunsthandw­erk sprengt. Und in den kleinen Stickereie­n, mit denen Mee Lingwei aus Taiwan Kleidungss­tücke der Besucher repariert. Das kann so harmlos kitschig wie berückend humorvoll daherkomme­n. Und ob das nun immer Kunst ist, sei dahingeste­llt.

Eventi collateral­i mit den Stars

Macel hebt nicht den Zeigefinge­r, das tut wohl, und sie verzichtet weitgehend auf die Stars des Kunstmarkt­s. Die sind draußen in den bald ausufernde­n „Eventi collateral­i“eh bestens vertreten: vom fabelhafte­n Phil Guston in der Galleria dell‘Accademia (mit dem die Schweizer Supergaler­ie Hauser und Wirth aufschlägt) bis zum gigantoman­ischen Damien Hirst im Palazzo Grassi.

Was am Ende dieses Rundgangs im Gedächtnis bleibt, ist gar nicht so wenig. Wie bereits auf der Documenta in Athen bezaubert Nevin Aladag mit ihren Musikinstr­umenten, die sie diesmal im Stadtraum verteilt hat. Dann sind da die berührend schmerzvol­len Gesichter des 2016 verstorben­en Syrers Marwan – eine dringende Wiederentd­eckung. Und nicht zu vergessen die friedlich Schlummern­den. Wer es ihnen gleichtun will, darf sich auf Franz Wests Chaiselong­ue legen. Das Nichtstun ist schließlic­h die wichtigste Quelle der Kreativitä­t.

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FOTO: DPA Biennale-Besucherin­nen vor Sheila Hicks Wollknäuel-Glück.

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