Lebenshilfe verweigert Hilfe
Nach Kündigung liegen Eltern und Geschäftsführung seit acht Monaten im Streit
- Neue Unruhe bei der Lebenshilfe Tuttlingen. Nach dem kurzen Gastspiel und der schnellen Freistellung von Geschäftsführer Walter Hornung im Mai 2015 hat sein Nachfolge Martin ten Bosch (50) jetzt ein dickes Problem: Er kündigte kurzfristig einem jungen Mann mit Down-Syndrom, der 13 Jahre in der Einrichtung betreut worden war. Die Eltern, Hans und Verena Staub, wollen das nicht hinnehmen und notfalls klagen.
„Zu Christoph muss man freundlich sein, man darf nicht mit ihm schimpfen. Dann ist er ein lieber Kerl“, sagt Hans Staub über seinen Sohn - allerdings: „Er braucht eine Einzelbetreuung, sonst funktioniert es nicht.“
13 Jahre lang hat es funktioniert. Dann, ab Sommer des vergangenen Jahres, bemerkten die Eltern, wie sich ihr Sohn, der von 9 bis 16 Uhr bei der Lebenshilfe betreut wurde und dort auch in der Werkstatt arbeitete, veränderte, „Er war aggressiv und verstört, er hat sich den Hals zerkratzt, in die Augen geboxt und halbe Körbe voller Papierschnitzel zerrissen“, berichten Hans und Verena Staub. Lange rätselten sie über die Gründe, bis ihnen eine Bekannte erzählte, was sie auf der Straße mitten in der Stadt gesehen hatte: Die Betreuerin der Lebenshilfe habe Christoph „über eine längere Strecke hinter sich hergezogen und ihn im Polizeigriff gepackt“. Hans Staub sagt, er habe selbst beobachtet, wie die Frau seinem Sohn „mit aller Brutalität den Arm aus der Hose gezogen hat“.
Anzeige gegen Betreuerin
Für die Eltern war damit klar, dass die Betreuerin „völlig überfordert“war, weshalb sie ultimativ einen BetreuerWechsel forderten. Als Geschäftsführer ten Bosch das strikt ablehnte, erstatten sie eine Anzeige gegen die Betreuerin bei der Polizei. Als daraufhin, Ende September 2016, der Lebenshilfe-Geschäftsführer die Kündigung zum 31. Oktober 2016 aussprach, schalteten sie Anwalt Bernhard Mussgnug ein.
Seither müssen die Eltern ihren Sohn weitgehend selbst betreuen. Dabei sind sie längst an ihre Grenzen gestoßen. Hans Staub ist 78 Jahre alt und krank; er hat zwei dringend nötige Operationen bereits mehrfach verschoben. Seine Frau ist 77 und kämpft ebenfalls mit gesundheitlichen Problemen. Ihre anderen fünf Kinder, alle Akademiker, wie Hans Staub sagt, leben inzwischen weitab von Tuttlingen. Da ist es zwar eine willkommene Unterstützung, dass der Familienentlastende Dienst (FED) des Landkreises eingesprungen ist und den jungen Mann drei bis vier Stunden pro Tag betreut. Aber eine Dauerlösung ist es nicht, die ursprünglich bis April befristete Zusage wurde jetzt verlängert - vorerst. „Christoph ist seelisch kaputt, weil er nicht mehr in die Lebenshilfe darf. Jeden Tag fragt er danach. Ihm fehlen seine Kollegen und die Werkstatt, da ist er immer gelobt worden“, berichtet Hans Staub. „Er verhält sich deshalb manchmal sehr aggressiv, zerreißt T-Shirts, reißt Kabel heraus, sprüht mit Spraydosen herum oder verletzt sich selbst und ist oft bis um 4 Uhr morgens wach.“
Landratsamt zahlt – aber kein Mitspracherecht
Das Landratsamt Tuttlingen übernimmt zwar die Kosten „pro untergebrachte Person bei der Lebenshilfe“, wie eine Sprecherin auf Anfrage mitteilt, hat aber kein Mitspracherecht, geschweige denn eine Weisungsbefugnis. Pro Jahr seien das insgesamt gut und gerne zwei bis drei Millionen Euro, erklärt Sozialdezernent Bernd Mager. Ihm und seinen Kollegen sei der Fall Staub seit fünf, sechs Jahren bekannt. Man habe der Familie auch schon zahlreiche Angebote für einen alternativen Betreungsplatz außerhalb von Tuttlingen gemacht, unter anderem in Spaichingen. Aber die Eltern hätten das immer abgelehnt.
Hans Staub bestätigt das und stellt klar: „Das kommt überhaupt nicht in Frage.“Ebenso eindeutig ist seine rechtliche Einschätzung: „Die Kündigung ist rechtlich niemals haltbar. Christoph muss jetzt sofort wieder in die Lebenshilfe aufgenommen werden, sie hat im Kreis Tuttlingen eine Monopolstellung und ist schon deshalb dazu verpflichtet.“
Verhärtete Fronten
Die Fronten sind völlig verhärtet. Das zeigt sich auch auf Seiten der Lebenshilfe. Versuche, mit Martin ten Bosch ins Gespräch zu kommen, scheitern spätestens bei seiner Sekretärin. Er ist nicht einmal bereit, sich die Fragen anzuhören und lässt per E-Mail wissen: „Wir stehen in der Fürsorgepflicht unseres Klientel. Eine öffentliche Äußerung würde eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten bedeuten.“
Nach dem gleichen Muster läuft es mit Frank-Karsten Willer, dem Vorsitzenden des Lebenshilfe-Verwaltungsrats und im Hauptberuf Vorstandsmitglied der Volksbank. Noch bevor man am Telefon dazukommt, eine Frage zu stellen, sagt er: „Ich äußere mich nicht.“Und auf die Bitte, doch allgemein über die wichtige und in der Öffentlichkeit kaum bekannte Arbeit der Lebenshilfe zu reden, antwortet er: „Wenn ich nichts sage, können Sie auch nichts schreiben“und legt grußlos auf.
Anwalt Mussgnug sagt, auch ihm sei es bisher nicht gelungen, mit den Verantwortlichen der Lebenshilfe zu reden, es gebe nur schriftlichen Kontakt. Als Mussgnug dann schließlich ankündigte, er werde die Wiederaufnahme von Christoph Staub notfalls gerichtlich durchsetzen, antwortete Geschäftsführer ten Bosch: Das Vertrauensverhältnis sei durch das Verhalten der Eltern „nachhaltig gestört“. Die Androhung einer Klage stellt ein weiteres Indiz dafür dar, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit nicht möglich sei. Im Übrigen enthalte das Vereinsrecht, an das die Lebenshilfe als eingetragener Verein gebunden sei, „keine rechtliche bindende Vorschrift für eine Betreuung.“
Einen Erfolg vor Gericht haben die Eltern bereits erzielt: Als nach der Anzeige ein Strafantrag „wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen“drohte, ging die Lebenshilfe-Mitarbeiterin auf das Angebot der Staatsanwaltschaft ein, 250 Euro zu bezahlen, wenn das Verfahren eingestellt wird. Das wertet Mussgnug als ein gewisses Schuldeingeständnis. „Wenn sie ein reines Gewissen hätte, hätte sie das nicht bezahlt.“
Hans Staub ist fest entschlossen, auch in der Hauptsache zu klagen. „Wenn die Lebenshilfe die sofortige Wiederaufnahme verweigert, gehen wir vors Oberlandesgericht“, kündigt er an. Ich habe keinen Zweifel, dass wir da gewinnen.“Martin ten Bosch ist sich seiner Sache ebenso sicher. Er teilte Anwalt Mussgnug knapp mit: „Ihre Anklage-Androhung sehe ich ANZEIGE