Der Erna ihre blauen Augen
Stefan Pucher inszeniert in Stuttgart Horváths Volksarbeitslosenstück „Kasimir und Karoline“
- Ödön von Horváth war ein großer Dramatiker und beschrieb in seinen Stücken schon sehr früh Charaktere des heraufziehenden Dritten Reiches. In Stuttgart ist seit dem Wochenende zu sehen, wie nahe so ein vor mehr als 100 Jahren geschriebener Text unserer krisenund kriegsschwangeren Gegenwart rücken kann.
Liebe kann für die Sonnenseite des Lebens, Arbeit für die Nachtseite stehen. Als Ödön von Horváth 1932 seine tragische Volkskomödie „Kasimir und Karoline“auf dem Münchner Oktoberfest ansiedelte, schickte er einen Kasimir ins Rennen, der gerade seinen Job als Chauffeur verloren hat und erleben muss, dass es eine Sonnenmondfinsternis gibt. In seinem Fall macht sich mit der Arbeit auch die Liebe aus dem Staub. Horváth hatte die ökonomische Depression direkt nach der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre im Blick. „Kasimir und Karoline“ist aber auch ein Volksstück zur wirtschaftspolitischen Lage im Hier und Jetzt. Zwar hetzt die bundesrepublikanische Wirtschaft von einem Wachstumsplus zum nächsten, trotzdem leben die Menschen in einer krisenhaften Dauerdepression und in Angst vor dem nächsten ökonomischen Super-Gau, sei er nun ausgelöst von Zockern in Nadelstreifen, postfaktischen Polithasardeuren oder beiden in Personalunion.
Horváths Figuren sind uns nicht nur deshalb so nah, weil sie unser Liebes- und Seelenleben in einem schillernd bajuwarischen Kunstjargon auf den Punkt bringen. Der Volksdramatiker der Weimarer Republik verwob die privaten Seiten seiner Figuren mit der gesellschaftspolitischen Situation, in der sie lebten. Genau deshalb wirken viele seiner Stücke, als würden sie aktuelle Verhältnisse kommentieren. Der von „denen da oben“so enttäuschte Kasimir zum Beispiel tönt zwar wie ein Ursozialist, würde heute aber wohl bei Pegida mitmarschieren. Und Karoline meint zwar, sie sei ein „wertvolles Weib“, das in schlechten Zeiten nur noch intensiver an ihrem Mann hängen würde. Geht Kasimir aber die Lohntüte flöten, verhält sie sich wie eine heutige Lady, die ihr Profil in ein Sugardaddy-Portal stellt und dort auf solvente Grauschläfen wartet.
Text zum Klingen bringen
Stefan Pucher, der mit seinen Inszenierungen sechsmal zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und dem vor zehn Jahren an den Münchner Kammerspielen mit Shakespeares „Sturm“eine wunderbar popkulturell unterfütterte Inszenierung gelang, hat sehr genau in den Horváth hineingehört. Das wiederum hat zur Folge, dass Peer Oscar Musinowski und Manja Kuhl ganz einfach auf der Bühne stehen und Text zum Klingen bringen können. Musinowski spielt einen Kasimir, dem tatsächlich die Felle wegschwimmen. Da ist aber auch ein Mann zu sehen, der Hilflosigkeit nicht unbedingt in Kraftmeierei ummünzt. Die Stuttgarter Karoline dagegen behauptet eine heuchlerische Ehrbarkeit, geht körpersprachlich aber auf die Jagd und ist eine ziemlich coole Männerfängerin. Irgendwann turnt Manja Kuhl an einer Poolstange und bleibt mit gespreizten Beinen sitzen. Man sieht: Da setzt sich eine selbstbewusst in Szene. Fehlt nur noch, dass sie „Girls just wanna have fun“trällert.
Davon, dass Frauen wenigstens gelegentlich Spaß haben wollen, vom gerade verfügbaren Mann genau das aber nicht geliefert bekommen, kann „dem Merkl Franz seine Erna“ein Lied singen. In Stuttgart bedeckt sie mit einer Sonnenbrille die Augen, die der Franz ihr gerade blau geschlagen hat. Ein dünnhäutiges Hascherl ist sie aber nicht. Im Gegenteil: Sandra Gerling verleiht der Sparringspartnerin des kriminellen Herrn Franz (Felix Mühlen) eine ungeheure Widerständigkeit. Da punktet eine mit Intelligenz. Pucher unterstreicht das, indem er Sandra Gerling immer wieder alleine auf die Bühne stellt und direkt ins Publikum sprechen lässt, wenn nötig auch mit „auswärtigen“Textfragmenten.
In früheren Entwürfen Horváths zu „Kasimir und Karoline“sei noch häufiger von „Nationalismus, Vaterland und Judenhass“die Rede gewesen, steht im Programmheft. Pucher habe solche Passagen und andere aus den Stücken „Italienische Nacht“und „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“in seine Stuttgarter Textfassung eingebaut. Gesprochen werden die familiären Fremdtexte vor allem von Andreas Leupold und Horst Kotterba. Leupold macht aus dem Landgerichtsdirektor Speer ein an Chaplin erinnerndes rechtsnationales Adolf-Männchen, während Kotterba dem Kommerzienrat Rauch die unerschütterliche Überheblichkeit eines Geschäftsmanns mit auf den Weg gibt, der weiß: Ich kann alles kaufen, auch die Karoline. Dummerweise ist da aber noch das Herz des kaufmännischen Lebemannes, das genau dann aussetzt, wenn er liefern will.
Dass Horváths düsteres Volksstück auf dem Oktoberfest spielt, deutet Stéphane Laimés Bühne mit Miniatur-Versatzstücken einer Achterbahn an. Dazu gibt es drei Musikerinnen und Musiker. Sie spielen live, stören aber genauso wenig wie die Gesangseinlagen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Am Ende weiß man, dass Inszenierungen von „Kasimir und Karoline“drei oder mehr Stunden dauern können, Stefan Pucher das aber elegant in dichten neunzig Minuten auf einer weitgehend leeren Bühne hinbekommen hat. Muss ihm erst mal jemand nachmachen.