Türkische Sündenböcke
Die Türkei steht am Beginn einer neuen Ära. Mit der Rückkehr von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf den Chefposten der Regierungspartei AKP am Sonntag zeichnet sich eine Wende im Selbstverständnis des türkischen Staates ab. Weniger Rücksicht auf Partner und eine Schwächung der Rechtsstaatlichkeit zugunsten einer intensiveren Personalisierung der Macht sind ab jetzt Teil der Staatsräson. Der Syrien-Konflikt und der Streit mit Iran geben der geostrategisch günstig gelegenen Türkei einiges an politischem Gewicht. In Erdogans Vision ist die Türkei ein stolzer Staat, der eigene Werte vertritt, der eigene Panzer baut und der sich nur bedingt internationalen Regeln unterwirft. Der Staatschef sieht dies als Befreiung von einem Joch, das dem Land vom Westen aufgezwungen wurde.
Erdogans Problem ist seine Selbstüberschätzung. Das Ziel, sein Land bis zum Jahr 2023 zu einer der zehn größten Volkswirtschaften zu machen, ist unerreichbar: Um unter die Top Ten zu kommen, müsste die Türkei innerhalb von sechs Jahren ihr Bruttoinlandsprodukt verdoppeln. Auch in der Außenpolitik stößt Erdogan an seine Grenzen. Dem Westen fällt die Rolle des Sündenbocks zu, der herhalten muss, falls aus dem türkischen Sprung nach Vorne nichts wird. Schon jetzt ist von westlichen Verschwörungen gegen die Türkei die Rede; das ist ein Grund für das Vorgehen gegen ausländische Journalisten im Land.