Das Schweigen durchbrechen
Mütter in Deutschland haben sich bei sexuellem Missbrauch in Familien zu selten schützend vor ihre Kinder gestellt. Das ist ein Ergebnis des ersten Zwischenberichts der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, der am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Hunderte Erwachsene schilderten fürden Bericht, wie sie als Kinder oft keine oder erst spät Hilfe erfuhren. Denn Familienangehörige reagierten trotz ihres Wissens um die Übergriffe nicht. Insbesondere Mütter hätten Missbrauch als Mitwissende geduldet und ihn dadurch unterstützt, heißt es in der Studie.
Erschütternde Zeugnisse sind darin niedergeschrieben, ebenso wie eine erste Bilanz der Arbeit der Kommission sowie Forderungen an die Politik. Im Mai 2016 hatte die Kommission ihre Arbeit aufgenommen, das sei „eine wichtige Entscheidung“der Regierung gewesen, sagte die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen und lobte „ein Signal, dass die Gesellschaft bereit ist, Verantwortung zu übernehmen“.
Zentraler Baustein der Kommissionsarbeit sind die Anhörungen der früheren Opfer: 200 Personen haben bislang persönlich ihr Schicksal in Gesprächen mit Kommissionsmitgliedern erläutert, die übrigen warten noch auf einen Termin. Sieben von zehn Betroffenen wurden in der eigenen Familie missbraucht. In diese Wunde legt der Bericht den Finger. „Er gibt einen tiefen Einblick in das Versagen von Müttern“, so Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. „Es gab Fälle, in denen Kinder ihre Mütter gefragt haben: ‚Weißt du überhaupt, was der Papa mit mir macht?‘ Und die Mütter haben ihre Kinder dann als Hure oder Schlampe beschimpft.“In den allerwenigsten Fällen haben die Mütter ihren Kindern geglaubt. Oft werde nach außen der Schein der Vorzeigefamilie gewahrt.
Warum schreiten die Mütter nicht ein? Abhängigkeiten, erlebte Rechtelosigkeit, Ohnmachtserfahrungen und Gewalt in der Partnerschaft haben die Experten als Gründe ausgemacht, hinzu komme oft die Angst, den Partner oder die ganze Familie zu verlieren. Die Familie gilt oftmals als Privatraum. Deshalb bekommen Schulen und Jugendämter oftmals nichts mit oder greifen nicht ein.
Matthias Katsch, Mitglied im Betroffenenrat der Kommission, sagte dazu in Berlin: „Sexueller Missbrauch ist kein exotisches Schmuddelthema, sondern eine Grundkonstante von Kindheit und Jugend in Deutschland.“Zwei bis drei Kinder pro Schulklasse würden Opfer sexueller Übergriffe, oftmals mit traumatischen Folgen. „Die Gesellschaft ist bei diesem Thema blind. Und es gilt, dieses Schweigen dauerhaft zu durchbrechen.“